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Ein Dorf auf Mallorca im Dornröschenschlaf

Blick auf die Dächer von Artà. | Archiv

| Mallorca |

Nachmittags ist Siesta in Artà. Das war schon immer so. Bereits vor 40 Jahren, als die ersten Touristen kamen und die Händler ihre Geschäfte in der pittoresken Fußgängerzone eröffneten. Wenn die Sonne am höchsten steht, sind all die kleinen bunten Läden geschlossen und es ist ruhig im Dorf. So ruhig wie im Moment war es allerdings selten. Wie all die anderen spanischen Dörfer und Städte wirkt es fast so, als sei Artà im Nordosten der Insel in einen Dornröschenschlaf gefallen.

„Das wird ein Sommer, wie ich ihn als Kind erlebt habe! Mit wenigen Menschen und leeren Stränden”, sagt Jose „Pep” Cabrer Fito. Der 70-jährige Mallorquiner ist eine Institution in Artà. Obwohl er eigentlich schon im Ruhestand ist, stand er bis zum Lockdown am 15. März täglich in seinem Geschäft „Flor de sal d’Es Trenc” in der Fußgängerzone und hat dort Salze und andere Spezialitäten verkauft.

„Wir waren zuletzt auf einem Besucher-Peak, der Handel lief außergewöhnlich gut“, sagt er. Trotzdem seien die Händler durch das saisonbedingte Geschäft auf der Insel wie alle hier den Wechsel zwischen umsatzstarken und umsatzschwachen Zeiten gewohnt – das könne ihnen jetzt helfen, diese schwere Zeit auszuhalten.

„Ich bin ein Optimist. Ich glaube, die meisten Geschäfte werden nach der Krise wieder eröffnen“, sagt Cabrer Fito. Bis es so weit ist, singt er. Jeden Abend auf seiner Terrasse über dem Salzladen an der Ecke und über den Dächern von Artà. Am ersten Abend bestand sein Publikum aus nur einer Nachbarin. Inzwischen sind es rund 20 Anwohner, die sich Abend für Abend auf ihren Balkonen und an den Fenstern versammeln, um Jose Cabrer Fito zu lauschen. Viele mit Tränen in den Augen. „So unterhalten sich wenigstens die Nachbarn jeden Abend fünf Minuten und wir alle freuen uns auf diesen Moment“, sagt er.

Gleich neben dem Laden von „Pep” befindet sich „Terra de Llum“, das Bekleidungsgeschäft von Eugenia Troya Viejo. Zusammen mit ihrem Nachbarn war die 63-Jährige vor 40 Jahren eine der ersten Händlerinnen von Artà. Die unfreiwillige Freizeit verbringt sie im Moment vor allem mit Kochen und Lesen. Dem Optimismus ihres Nachbarn kann sie sich nicht ganz anschließen. „Wenn keine Touristen kommen können, dann denke ich, dass viele Läden schließen müssen“, sagt Troya Viejo. Allein von Einheimischen und Residenten könne der Handel nicht leben. „Ohne Touristen wird das für uns alle ein hartes Jahr“, da ist sich auch Carina Laag sicher. Mitten in der Ausgangsperre hat ihr Geschäft „MallorQueen”, in dem sie hochwertige Unterwäsche und Bademode verkauft, sein dreijähriges Bestehen gefeiert. Aber anstatt ihren Kundinnen jetzt den neuen Lieblings-Bikini für den Sommer zu verkaufen, sitzt Carina Laag mit ihren drei kleinen Kindern alleine zu Hause und versucht, das Beste aus der Zwangspause zu machen. „Wir leben so in den Tag hinein und machen uns keinen Stress“, erzählt sie. Und wann immer es möglich ist, arbeite sie jetzt an ihrem Online-Shop. „Die Idee gibt es schon lange“, berichtet sie, bisher habe ihr aber die Zeit gefehlt, um das Projekt auch in die Tat umzusetzen. Zeit, die sie jetzt hat, und so sitzt sie in diesen Tagen oft am Computer und freut sich, dass ihre Kinder zusammen spielen. Denn zu allem Überfluss war Laags Partner geschäftlich in Deutschland, als der Alarmzustand ausgerufen wurde, und konnte bisher noch nicht wieder einreisen.

„Die Situation ist alles andere als leicht – privat und finanziell“, gibt sie zu. Jedoch habe sie das große Glück, einen Vermieter zu haben, der sehr verständnisvoll ist und ihr gestattet, die Mietzahlung erst mal auszusetzen. Dass das sprichwörtlich „die halbe Miete” in dieser Krise ist, das weiß auch Sascha Latka. Der Gastronom ist bisher der einzige in Artà, der mit seinem Restaurant „L’Atrio by Sascha” einen Lieferservice anbietet. Von Rinderbäckchen über Thunfischtatar bis zum Veggie-Wok liefert er in Artà und Umgebung alles, was die Speisekarte hergibt. „Das ist eine Kooperation mit ‚Pa I mes’“, erzählt er. Er und Dariusz Olszynski, der in Artà als „der deutsche Bäcker“ bekannt ist, nehmen Bestellungen entgegen und liefern abwechselnd aus.

„Man bestellt zum Beispiel frische Kalbsleber bei mir und eine Bretzel, Brot und Wurst von Dariusz. Das bringe dann entweder ich oder er vorbei. Oder man holt es selbst in der Bäckerei ab“, erklärt Sascha Latka. Das komplette Angebot kann man auf Latkas Webseite oder in der Facebook-Gruppe von Olszynski „Der Bäcker” einsehen. Das Modell der beiden funktioniert. Täglich liefern sie aus, auch an Stammgäste in Costa de los Pinos, Cala Millor und Colònia de Sant Pere. „Ich bin froh, dass ich das machen kann und was zu tun habe. Dann komme ich auch nicht zu sehr ins Grübeln“, erzählt Latka. Natürlich sei im klar, dass harte Zeiten bevorstehen. Wenn er diesen Sommer überhaupt noch aufmachen könne, dann wahrscheinlich nur mit Abstand zwischen den Tischen, vermutet er. „Und dann habe ich keine zehn Tische mehr sondern maximal vier oder fünf.“ Ob dann noch genug Geld reinkomme, um die Kosten zu decken und davon zu leben, wage er zu bezweifeln. „Vermieter, Staat und Unternehmer müssen zusammenarbeiten und aufeinanderzugehen, dann können wir es schaffen“, sagt Latka, denn, da ist er sich sicher „Eigentlich funktioniert Artà immer!“

„Wir können das hier nur überstehen, wenn sich alle gegenseitig unterstützen“, weiß auch Stefania Carle. Sie und ihr Mann Emiliano Baravalle betreiben seit sieben Jahren das „La Bicicletta”, eine Bar mit kleiner Speisekarte. „Liefern macht für uns keinen Sinn, wir haben gar nicht die Möglichkeit, Essen in großen Mengen zuzubereiten. Und einen Salat bestellt wohl kaum einer“, erklärt Carle. Das italienische Paar wird von der Krise gleich doppelt gebeutelt, denn auch auf Stefania Carles Einnahmen im gut bezahlten Sommerjob an der Rezeption eines Hotels muss es in diesem Jahr wahrscheinlich verzichten. Wenigstens bleibt Emiliano im Moment viel Zeit für seine Leidenschaft: das Radfahren – wenn auch nur im heimischen Wohnzimmer. Normalerweise fährt Baravalle mehrmals die Woche morgens früh vor Arbeitsbeginn drei Stunden über die Insel. Vor einigen Jahren ist er sogar mal die berühmte Route 66 quer durch die USA geradelt, 20 Tage war er unterwegs. Ihre Bar sei ihr Lebenstraum und den werden sie auch nicht so einfach aufgeben, da sind sich seine Frau und er einig. „Aber wenn keine Urlauber kommen, dann sind wir auf das Entgegenkommen unseres Vermieters angewiesen – sonst wird es nicht gehen“, betont Carle. Und da sei, was die Kooperationsbereitschaft angeht, im Moment noch Luft nach oben.

Und während Emiliano auf dem aufgebockten Fahrrad täglich drei Stunden im Wohnzimmer trainiert, wird es auch Mona Werner nicht langweilig. Die Schmuckdesignerin hat kurzerhand ihre Goldschmiede aus dem Herzen von Artà nach Hause geholt und designt jetzt eben im Homeoffice. „Gerade noch habe ich mit einem Herren geskypt, der vor einiger Zeit einen Talisman in Auftrag gegeben hat“, erzählt sie. Normalerweise wäre er in ihrer Werkstatt mit angeschlossenem Verkaufsraum vorbeigekommen, um zu sehen, wie sich das Schmuckstück entwickelt – aber weil das im Moment nicht geht, hält Mona Werner nun eben ihre Arbeit in die Kamera am Computer. „Das klappt gut“, sagt sie. Und weil sich auch ihre kleinen Anhänger in Form der Silhouette Mallorcas immer gut verkaufen, kreiert sie diese grade besonders gern. „Um die Sehnsucht nach der Insel zu stillen“, erklärt sie. Gekauft werden kann der Schmuck über ihre Webseite. Auch Mona Werner ist froh, dass sie trotz der Krise Aufträge hat und arbeiten kann. „Wir versuchen das Beste daraus zu machen und dem mulmigen Gefühl keinen Raum zu geben“, sagt sie.

Das „Beste aus der Situation zu machen“, das ist für Georg M. derzeit kein großes Problem. „Als der Alarmzustand ausgerufen wurde, weilte grade eine neue Liebe bei mir“, erzählt er. Und weil zusammen alles schöner ist als allein, hätten sie beschlossen, die Ausgangssperre gemeinsam zu verbringen. Inzwischen sitzen sie seit sieben Wochen gemeinsam auf Wolke sieben. Aber Liebe hin oder her: „Klar machen sich in dieser Krise immer mal wieder Existenzängste bemerkbar“, sagt Georg. Er verkauft Feinkost und Wohnaccessoires in insgesamt sechs Geschäften auf Mallorca. Bereits seit 15 Jahren gibt es „Georg’s” in Artà. Er befürworte die Ausgangssperre, „aber danach müssen Wege gefunden werden, damit Touristen wieder auf die Insel kommen können“, betont er. Denn allein von den Menschen, die auf Mallorca leben, könne der Handel nicht existieren. Sollten die Touristen jedoch längerfristig ausbleiben, will Georg den bereits bestehende Online-Shop, den sein Sohn in Deutschland führt, weiter ausbauen.

Auf Online-Marketing setzt auch Frank Krüger in diesen Zeiten stark. Der 57-jährige Künstler wollte am Ostermontag seine neue Galerie in Artà eröffnen. Das konnte er letztlich nur virtuell bei Facebook. Weil das aber großen Zuspruch fand, rief er gemeinsam mit seiner Frau die „Galeria Frank Krüger Weekend Show“ ins Leben. Eine Live-Show bei Facebook, in der er mit seinen Fans kommuniziert und jeden Sonntag ein Gemälde verlost. „Social Media ist totales Neuland für uns, das haben wir bisher echt vernachlässigt”, erzählt er. Wie alle anderen auch müsse er eben jetzt versuchen, neue Bereiche zu erschließen. Über 20.000 Euro Fixkosten habe er jeden Monat mit seinen vier Galerien. Geld, das er normalerweise durch den Verkauf seiner Kunst – vor allem an Touristen – erwirtschaftet.

„Wenn dieses Jahr im schlimmsten Fall gar keine Urlauber mehr kommen, dann brauch’ ich gar nicht aufzumachen“, sagt Krüger. Generell glaube er aber, dass Artà durch die Boutique-Hotels und vielen vermögenden Residenten im Umkreis Chancen hat, die Krise besser zu überstehen als andere Dörfer und Städte. Die Kaufkraft sei größer als in Orten, die ausschließlich vom Wochentourismus lebten. Seine Werkstatt hat Frank Krüger inzwischen in die heimische Garage verlagert. Umgeben von seiner Frau, seiner Tochter und den fünf Katzen, arbeitet er nicht nur an seinen neuen Social Media Projekten, sondern auch an seinen berühmten Stier-Bildern.

Auch Iris Honys von „ArtAmbient” erschafft ihre Kunst nun zu Hause. Seit über zehn Jahren verkauft sie mit ihrem Mann Roman Kleidung, Accessoires, Schmuck, Dekoration und ihre Kunst in vier Läden auf Mallorca. Zwei davon sind in Artà. Ihr neuestes Projekt: witzige Figuren auf den Stümpfen einer abgestorbenen Palme im Garten. „Sie kann ja nichts kaufen, also verwendet sie, was sie findet: Besen, Eimer, Tücher und alte Pinsel zum Beispiel“, erzählt Roman Honys. Die größte Sorge des Paares gilt in dieser Krise den zehn Angestellten, denn auch die Honys befürchten, dass die Saison schon jetzt zu Ende ist. „Aber für nächstes Jahr bin ich zuversichtlich“, sagt Roman Honys. Bis die Geschäfte wieder laufen, versuchen er und seine Frau die Zwangspause sinnvoll zu nutzen. Sie telefonieren mit alten Freunden, verschicken lustige Videos und Iris Honys verarbeitet eben, was sie findet, zu Kunst.

Und Jose Cabrer Fito vom Salzladen an der Ecke singt. Wird weiter singen. Bis die Krise vorbei ist, bis Artà aus seinem Dornröschenschlaf erwacht – hoffentlich mit Happy End.

(aus MM 17/2020)

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