Den Sonntag vor Ostern bezeichnen Christen als „Palmsonntag”. Die Namensgebung erklärt sich aus der Bibel, insbesondere aus dem Matthäus-, Lukas- und Johannes-Evangelium. Sie alle behandelten den Einzug Jesu in Jerusalem, reitend auf einem Esel. „Viele Menschen breiteten ihre Kleider auf der Straße aus, andere schnitten Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg”, zitiert die passionierte Fliesensammlerin und MM-Leserin Marlis Andres aus der heiligen Schrift.
Die „Zweige”, um die es geht, stammten von Palmen. Anders als in Deutschland (da greift man mangels Palmen je nach Region auf Buchsbaum zurück) ziehen Katholiken traditionell mit Palmzweigen am Palmsonntag um die Kirche, um an das historische Ereignis zu erinnern, das gleichzeitig den Anfang der Passion Jesu bildete.
Auf Mallorca pflegen die Menschen aber noch einen anderen Brauch: Sie flechten die Palmwedel zu kleinen Kunstwerken. In dem Dorf bei Osnabrück, in dem Marlis Anders aufwuchs, trugen Kinder bei der Palmprozession Stöcke, denen ein geschickter Dorfbewohner ein festliches Aussehen verliehen hatte. Ihre Eltern wiederum brachten am oberen Stockende einen Apfel und eine Kerze an. Hinzu kam grüner Schmuck aus Buchsbaumzweigen, erinnert sich die promovierte Ärztin im Rückblick auf ihre Kindheit.
„Warum machen wir Menschen uns so große Mühe mit den Prozessionen und deren Ausschmückung?”, fragt sich Andres. Vor Jahren habe Erzbischof Franz Lackner in Salzburg in einer Predigt dem prunkvollen Gehabe der Kirche einen Sinn zu geben versucht, indem er sinngemäß ausführte: „Gott hat uns diese wundervolle Erde gegeben, und wenn wir zum Beispiel Blumen auf den Altar stellen, geben wir ihm ja nur sein eigenes Werk zurück. Wenn wir aber unsere Fähigkeiten einsetzen und Blumen und ganze Altäre schnitzen, den Stein in heilige Figuren verwandeln und kostbare Gewänder weben, dann ist es ein eigenes Geschenk des Menschen an Gott.”
So halten es die Menschen auf Mallorca, ist sich Andres sicher. „Sie gebrauchen nicht nur die Palmwedel, sondern verwandeln diese in kleine Kunstwerke, um dem Erlöser am Palmsonntag zu huldigen.”
Die direkte Übersetzung der Baumart „Palme” ins Lateinische ist „Palma”, im Spanischen ist es „Palmera”. Apropos Latein: Die aufstrebende Großmacht Rom erschien 123 vor Christus in Gestalt des Feldherrn Metellus. Nach der Eroberung der Insel taufte er eine Siedlung, an strategisch günstig Stelle gelegen, nach der Siegespalme: Palma. Das war der Anbeginn der heutigen Balearen-Metropole. Die späteren arabischen Eroberer nannten die Stadt Medina Mayurca, die christlichen Rückeroberer tauften sie um in „Ciutat”, was auf Katalanisch Stadt bedeutet. Im 20. Jahrhundert erhielt die Inselhauptstadt den römischen Namen Palma de Mallorca zurück, seit 2016 heißt sie offiziell nur noch Palma.
Palma und Palmen sind scheinbar unzertrennlich. Wer im Umfeld der Kathedrale flaniert, wird sich dessen schnell gewahr. Der Parc de la Mar vor dem Gotteshaus ist ein Palmenhain. Und auch im Innern der Kathedrale ist die Darstellung der Palme zu finden: In der Kapelle des Heiligen Petrus hat der Keramikkünstler Miquel Barceló 2007 eine Fächerpalme neben Christus gestellt, um den Ort und die wundersame Brot- und Fischvermehrung inseltypisch darzustellen.
Ist es Zufall oder sind auf Mallorca mit Bedacht häufig Palmen neben die Gotteshäuser gepflanzt? Die Insel, ihre Kirchen und meist auch die zentralen Plätze in den Dörfern sowie die Palmen gehören zusammen, bilden eine Einheit, ist sich Marlis Andres sicher.
Fliesentableaus und ein Altarbild unterstreichen die Selbstverständlichkeit, mit der die Inselbewohner die Palme in ihr Leben einbezogen haben.
Da ist etwa der legendäre Christophorus. Ein Fliesenbild in einer Straße in Palma zeigt ihn, wie er sich auf eine Palme stützt, als er Jesus in Gestalt eines Kindes über den Fluss trägt.
Auf dem Fliesenbild der ersten Kreuzwegstation am Pilgerweg von Porreres zum Kloster Monti-Sion ist wiederum Jesus im Prätorium, dem Amtssitz des Pilatus zu sehen. Abweichend von der üblichen Darstellung, in der die Soldaten Jesus einen Stock in die Hand drücken, erhält er hier einen Palmwedel als Zeichen seiner Königswürde. Es ist die Siegespalme des Erlösers.
In der Capella de Sant Miquel in Campanet, eine der ältesten Kirchen der Insel, ist die Gottesmutter zwischen einer Palme und einer Zypresse dargestellt. Der Maler hat sogar Schriftbänder mit den Baumnamen hinzugefügt. Vielleicht wollte er damit sagen: „Ich male keinen Rosenhaag, sondern die Bäume meiner Insel.”
Es gibt noch eine Seite an diesem wunderbaren Baum, betont Andres. Er lasse jedes Herz im kalten Norden höher schlagen. „Die Palme vermittelt Sonne und Urlaub und stillt die Sehnsucht nach einem Leben frei von Sorgen und Problemen des Alltags.” (red)