Alicia umfasst mit ihrer ganzen linken Hand den Zeigefinger des Papas. Sie liegt in Pyjama und unter einer Decke im Kinderwagen: Alicia ist seit vier Monaten auf der Welt. Die Siesta ist vorbei, die Kleine rekelt und greift um sich. Der Vater beobachtet seine Tochter beim Aufwachen. Währenddessen hat er Zeit zu erzählen, wie Alicia, das Corona-Baby, entstand.
Auf den Balearen ging die Zahl der Geburten seit 2008 um ein Drittel zurück
Alicia García Geib ist eines von 1370 Kindern, die auf den Balearen zwischen Januar und Februar dieses Jahres zur Welt kamen. Das sind in Bezug auf Januar 19,8 Prozent weniger Neugeborene im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Also im Verhältnis zu 2020, als noch keine Gesundheitskrise herrschte. Der Februar dieses Jahres war ebenfalls kinderarm, 14,8 Prozent weniger Geburten. Die Zahlen hat das Nationale Statistikinstitut Spaniens, INE, ermittelt. Die Balearen liegen im Durchschnitt Spaniens, wo die Zahl der Geburten seit 2008 um ein Drittel zurückging.
In den ersten drei Monaten dieses Jahres kamen Kinder zur Welt, die während der Ausgangssperre zwischen März und Mai vergangenen Jahres gezeugt wurden. Alicia erblickte am 18. Januar das Licht der Welt, als Tochter eines Deutschen und einer Spanierin. Das Paar zeugte sein Kind im Mai. Das sind acht Monate Schwangerschaft, Alicia war eine Frühgeburt, ein „Niño prematuro”.
Mehr Zeit, mehr Sex, mehr Kinder? Dass es dieses Jahr einen Baby-Boom geben könnte, hatten Experten nicht ausgeschlossen. Doch es scheint, als habe Corona den umgekehrten Effekt auf Pläne, eine Familie zu gründen. Viele Menschen verloren wegen der Pandemie ihren Job oder verdienten in Kurzarbeit weniger. Da macht man nicht mal eben so ein Kind.
Kind ist ja immer auch eine Investition in die Zukunft
Auf der anderen Seite sagte Martin Bujard vom Deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung der Deutschen Presse-Agentur, dass für viele in der Corona-Zeit der Wert der Familie steige. Ein Kind ist ja immer auch eine Investition in die Zukunft.
Alicias Vater heißt Daniel Geib, ihre Mutter Fabiola García. Er ist 47, sie 43 Jahre alt. Sie sind junge und alte Eltern zugleich. Geib ist Deutscher, stammt aus Jena, García ist Spanierin, kommt aus Andalusien, Jerez de la Frontera. Die beiden wohnen in Mallorcas Inselhauptstadt Palma, im Künstlerviertel El Terreno, eine Gehminute vom Park Bellver entfernt.
Das Paar hatte mit einem Baby-Boom wegen Corona gerechnet
Dort geht das Paar oft mit Alicia spazieren, dort sitzt es gerade auf einer Bank im Schatten. Eine Brise geht, die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Dass Alicia eines von vergleichsweise wenigen Kindern ist, die in Spanien im Januar auf die Welt kamen, hätten Daniel Geib und Fabiola García nicht gedacht. „Wir haben eher mit einem Baby-Boom wegen Corona gerechnet”, sagt García.
Doch die Zahl der Geburten seit Beginn des Jahres erreicht in Bezug auf ganz Spanien den niedrigsten Stand seit 1941, als begonnen wurde, Daten zu erheben. 48.282 Kinder kamen zwischen Januar und Februar landesweit zur Welt, beide Monate blieben unter der Marke von 25.000. Für Februar ist dies ein Rückgang von 14,8 Prozent. Weniger Kinder zu zeugen ist offenbar eines von vielen Phänomenen der Pandemie. Neben Klopapier hamstern und Essen aufs Sofa bestellen.
Eigentlich war Geib es, der sich ums Verhüten kümmern sollte
Auch Daniel Geib und Fabiola García wollten nicht so wirklich ein Kind zeugen. Sie kannten sich im Mai vergangenen Jahres erst seit einem halben Jahr. Sie wohnten im selben Gebäude im Terreno, waren sich sympathisch. Irgendwann wurden sie ein Paar und verbrachten während der Ausgangssperre viel Zeit miteinander. García konnte nicht arbeiten, weil das Bekleidungsgeschäft, in dem sie beschäftigt war, vorübergehend schließen musste. Geib hatte weniger Arbeit. Eigentlich war er es, der sich ums Verhüten kümmern sollte. „Aber da gab es ein Missverständnis”, sagt er und lacht.
Das Paar spricht Englisch miteinander. Der Muttersprache des anderen sind die beiden kaum mächtig. Daniel Geib stammt aus Jena und wanderte 2018 nach Mallorca aus. In den zehn vorherigen Jahren kam er vier- bis fünfmal auf die Insel. Er arbeitet als Gastdozent an der Akademie für Business und Medien Ascenso in Palma. Mittlerweile hat er ein Start-up gegründet, das Unternehmen Fincas mit Arbeitsplätzen anbietet. Dass er mit fast 50 Jahren zum ersten Mal Vater wird, kommentiert er so: „Ich bin glücklich, auch wenn es schnell ging.”
Auch wenn Alicia viel schreie, sei sie ein tolles Mädchen, sagen die Eltern
Seine Freundin Fabiola García ist mit 43 Jahren nicht die jüngste Mutter. In Deutschland gilt eine Schwangerschaft ab 35 Jahren als Risiko. Doch in Spanien werden Mütter immer älter. Der Schnitt liegt bei 31 Jahren. 1978 lag er noch bei 25. Im vergangenen Jahrzehnt stieg die Zahl der Frauen, die 40 Jahre und älter waren, als sie Mutter wurden, um mehr als 60 Prozent.
Auch wenn Alicia viel schreie, sei sie ein tolles Mädchen, sagen die Eltern. „Es ist anstrengend, aber unbeschreiblich toll mit ihr”, sagt Geib. Mit Alicia hätten sich Prioritäten verändert. Das Paar fragt sich nun: Was ist das Beste für das Kind? Wichtig sei, nah bei der Familie zu sein. Geibs Mutter, die in Deutschland lebt, kam schon vorbei und das Paar konnte das Kind ein paar Stunden abgeben. Wieder im Café zu sitzen, sei super, sagt Geib.
Einer, der schon drei Kinder hat, ist Octavi Córdoba. Er ist Leiter der Gynäkologie am Universitätskrankenhaus Son Espases und Vater von Teenagern. Córdoba, 48 Jahre alt, sagt: „Vater zu werden hat einen größeren Wert als Doktor zu sein.”
Macht sich der Rückgang der Geburten an seinem Dienstort bemerkbar? Ja und Nein. Die Zahl der Geburten sei zwar im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um sieben Prozent zurückgegangen. Im Januar habe es einen Einbruch von 40 Prozent gegeben. Doch Córdoba betont, dass er jetzt noch keine Schlüsse aus der Zeit der Ausgangssperre ziehen können. „Dafür müssen wir bis Oktober warten.”
Anfang Juli endet die Elternzeit der Mutter, García muss wieder arbeiten
Im Son-Espases-Krankenhaus schwankt die Geburtenzahl zwischen 100 und 190 Geburten je Monat. Für Córdoba gibt es generell mehrere Faktoren, die die Geburtenrate beeinflussen: die wirtschaftliche Situation, das Alter, Gesundheitskrisen und Hilfeleistungen. Während des Confinamientos waren „Centros de reproducción asistida”, sprich Zentren für künstliche Befruchtung, geschlossen. Das kann Arzt Octavi Córdoba nicht nachvollziehen, weil die Infektionszahlen auf den Balearen niedrig waren.
Zurück in den Park Bellver zu den jungen alten Eltern. Anfang Juli endet die Elternzeit der Mutter, García muss wieder arbeiten. Vorerst nur halbtags. In Spanien haben Mütter bis zu 16 Wochen Elternzeit, sechs vor und zehn nach der Geburt. García hat mehr Zeit, weil Alicia so früh kam. Wer kümmert sich von Juli an um das Kind? „Zunächst ich”, sagt Daniel Geib. Er kann von Zuhause aus arbeiten. Doch er weiß schon jetzt, dass er oft unterbrochen werden wird.