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Hausmeister im eigenen Leben

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Warum der Mut zur Lücke manchmal schwierig ist

Ein freundlicher Morgen Anfang Oktober. Ich stehe im Stau. Schon wieder. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, das Radio dudelt, und vor mir gähnt eine Lücke, in die man locker einen kleinen VW-Bus stellen könnte. Ich sehe sie, mein deutsches Nervensystem sieht sie, und alles in mir schreit: Fahr doch zu! Doch nichts passiert. Der Wagen vor mir bleibt, wo er ist. Der Fahrer, vermutlich ein Mallorquiner, Mitte 50, Arm lässig aus dem Fenster, scheint sich nicht im Geringsten dafür zu interessieren, dass hier Platz wäre - Platz, den man nutzen könnte, um gemeinsam wenigstens ein Stückchen weiterzukommen.

Ich atme. Ich übe. Geduld. Mut zur Lücke, sage ich mir. Und spüre, wie schwer das ist, wenn die eigene Geduld im Stau steht und nicht vorankommt.

Früher dachte ich, Staus seien einfach nur ein logistisches Problem. Heute weiß ich: Sie sind ein Charaktertest. Eine Miniaturausgabe des Lebens. Während manche sich nervös an die Stoßstange des Vordermanns kleben, vertrauen andere darauf, dass Bewegung schon von selbst entsteht - irgendwann, irgendwie. Auf Mallorca scheint Letzteres der verbreitetere Glaube zu sein. Die Lücke ist hier kein Fehler, sondern ein Zustand. Eine Form von Gelassenheit, die wir Mitteleuropäer oft erst lernen müssen - wenn überhaupt.

Ich beobachte, wie auf der rechten Spur ein weißer Lieferwagen elegant in genau diese Lücke gleitet. Mein Puls steigt. Nicht, weil ich ihn beneide, sondern weil ich in Sekundenbruchteilen all die Regeln, die ich je über geregelten Verkehr gelernt habe, innerlich zusammenbrechen sehe. In Deutschland wäre das ein Skandal. Hier ist es Alltag. Und vielleicht ist es genau das, was mir den Spiegel vorhält: Nicht jede Lücke muss sofort gefüllt werden. Manchmal ist sie einfach nur da, um Raum lassen zum Atmen.

Psychologisch betrachtet, ist der Drang, jede Lücke zu schließen, tief in uns verwurzelt. Er gibt uns das Gefühl, Kontrolle zu haben - über das Auto, das Leben, die Richtung. Wer auffährt, zeigt: Ich bin bereit. Wer Abstand hält, scheint zu zögern. Doch was, wenn das gar kein Zögern ist, sondern Vertrauen? Vertrauen darauf, dass man auch mit Abstand ankommt.

Ich versuche, mich darauf einzulassen. Lasse die Lücke, lasse den Gedanken, dass mich alle überholen. Ich bleibe im Tempo der Insel. Langsam. Wellenartig. Einatmen, ausatmen, loslassen. Und während ich beobachte, wie der Verkehr vor mir sich bewegt - unkoordiniert, chaotisch, aber irgendwie doch funktionierend -, wird mir klar: Vielleicht sind die Spanier gar nicht träge. Vielleicht sind sie einfach besser im Leben und Leben lassen.

Denn wer im Verkehr hetzt, hetzt meist auch durchs Leben. Wer drängelt, will beweisen, dass er Kontrolle hat. Und wer den Abstand wahrt, hat vielleicht längst verstanden, dass Nähe und Distanz nicht nur auf der Straße wichtig sind, sondern überall.

Trotzdem: Es fällt mir schwer. Meine deutsche Effizienz sehnt sich nach Taktung, nach Fortschritt, nach Sinn. Wenn ich doch wüsste, dass ich durch Aufschließen wirklich schneller wäre - aber ich weiß es ja besser. Studien sagen, es bringt kaum etwas. Trotzdem fühlt es sich so an, als stünde ich still, während andere vorankommen. Das nennt man, glaube ich, eine kognitive Dissonanz - oder ganz einfach: Mallorca.

Am Ende des Staus, kurz bevor sich alles wieder in Bewegung setzt, sehe ich den Fahrer mit dem Arm aus dem Fenster an der Ampel. Er winkt mich freundlich vorbei, als wollte er sagen: Geh du nur. Ich bin schon da, wo ich sein will. Und vielleicht ist genau das der Punkt?!

Ich fahre weiter - nicht wirklich schneller, aber ruhiger. Hinter mir liegt eine Lektion, die kein Navi erteilt: Dass Lücken manchmal genau der Raum sind, in dem das Leben atmen kann.

Nachklang auf freier Strecke

Später, neugierig geworden, habe ich nachgelesen, ob diese mallorquinische Lässigkeit tatsächlich die Fahrtzeit verlängert. Laut einer Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology verändern große Abstände die Reisezeit nur minimal - meist um weniger als zwei Minuten auf zehn Kilometer Stau. Entscheidend ist nicht die Lücke selbst, sondern das, was sie verhindert: das ewige Anfahren und Bremsen, die sogenannten Stauwellen.

Forscher der ETH Zürich haben das 2023 in einem Verkehrsmodell simuliert: Wenn alle Fahrer gleichmäßig mit 25 km/h rollen, kommen sie nahezu gleichzeitig an wie jene, die permanent aufschließen und wieder abbremsen. Der Unterschied: Ihre Herzfrequenz bleibt niedriger, der Spritverbrauch sinkt, und sie verursachen keine zusätzlichen Wellen. Man könnte sagen: Die Zeitersparnis des Dränglers ist eine Illusion - der Preis dafür ist sein hoher Puls.

Interessant ist, dass sich dieser Effekt auch psychologisch widerspiegelt. In einer Studie der Universität Nagoya wurde gezeigt, dass gleichmäßiges Fahren das Belohnungszentrum im Gehirn stärker aktiviert als hektisches Stop-and-Go. Offenbar reagiert das Nervensystem dankbar auf Stabilität. Vielleicht ist das der Grund, warum die Mallorquiner morgens so entspannt wirken, während wir mit deutscher Präzision versuchen, jede Sekunde einzuholen - und sie dabei verlieren.

Die Lücke, so scheint es, ist kein Zeichen von Trägheit, sondern von Vertrauen in den Fluss. Vielleicht könnte man sie sogar als eine Art Straßen-Meditation betrachten: Einatmen, ausatmen, rollen. Wer lernt, sie auszuhalten, gewinnt nichts Messbares - aber etwas Spürbares. Ruhe. Präsenz. Ein kleines Stück inneren Urlaub, mitten im Stau.

Seit ich das weiß, ertappe ich mich dabei, selbst großzügigere Abstände zu lassen. Nicht, weil ich langsamer geworden bin, sondern weil ich verstanden habe, dass Geschwindigkeit nichts mit Druck zu tun hat. Und wenn hinter mir einer hupt, weil ich seine Lücke nicht sofort fülle, denke ich: Vielleicht braucht er sie ja dringender als ich.

So gesehen ist der Stau gar kein Hindernis, sondern ein Spiegel. Einer, in dem man sehr genau erkennt, wie man durchs Leben fährt - und ob man schon bereit ist, den eigenen Rhythmus zu ändern. In diesem Sinne.

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