Schon am Paeso de Mallorca, dem mit vielen Bäumen und Grün gesäumten Flusslauf in Palma, muss man seinen Weg in Schlangenlinien finden. So viele Radfahrer, Fußgänger und Jogger nutzen dort die breiten Bürgersteige, weichen sich großzügig aus.
Neun Uhr morgens, 21 Grad: Ein strahlend blauer Himmel und eine sanfte Meeresbrise begleiten den ersten Tag, an dem nach fast sieben Wochen Ausgangsperre auf der Insel endlich wieder Individualsport im Freien zugelassen ist. Und zwar in Zeitfenstern von 6 bis 10 Uhr am Morgen sowie 20 bis 23 Uhr am Abend.
Nicht wenige Menschen ab 14 nutzen diese Gelegenheit. Wer an diesem Samstag nicht zu den Frühaufstehern gehört, sieht selbst in der letzten Stunde des ersten Freigangs noch viele Jogger, die sich an Parkbänken die Beinmuskeln mit Streckübungen dehnen oder sich bereits verschwitzt samt dunklen Flecken im T-Shirt auf dem Heimweg befinden.
Der Hof des Es Baludard Museums am Ende des Paseo de Mallorca, der einen grandiosen Ausblick über den Hafen von Palma bietet, ist indes verschlossen. Also geht es durch die Altstadtgassen weiter an die Hafenpromenede. Hier sind erst recht viele Radfahrer auf dem nahezu autofreien Boulevard unterwegs. Die Passanten, nicht wenige mit Schutzmasken unterwegs, streben, wenn sie sich begegnen, auseinander - wie gleichpolige Magneten, die sich gegenseitig abstoßen.
Die Warnung vor der Ansteckungsgefahr des Coronovirus sowie die Vorgaben zur Einhaltung von Mindestabständen haben sich tief im Kollektivbewusstsein der Bevölkerung eingeprägt. Dennoch ist der Drang nach Bewegung an der frischen Luft, nach Laufen, Rennen, in die Pedale treten, übermächtig. Palmas Einwohner, so scheint es, arrangieren sich mit den neuen Verhältnissen, versuchen Schutz und Betätigung, Sicherheit und Freiheit miteinander in Einklang zu bringen.
"Man hat mich vernichtet", sagte Nachbar Joan noch vor einer Woche. Der Extremsportler war vor der Ausgangsperre daran gewöhnt, nahezu täglich viele Kilometer zu rennen. Mit dem Verbot war er dazu verdammt, zu Hause herumzusitzen. In seinem Bewegungsdrang umrundete er zuletzt jeden Nachmittag die rund 100 geparkten Autos in der düsteren Tiefgarage seines Wohnblocks, bis er mehrere Kilometer hinter sich gebracht hatte. Seit der Ankündigung der Öffnung für diesen Samstag zählte Joan die Stunden: "Sobald es los geht, renne ich bis ich weiß nicht wohin und wieder zurück!"
Vorbei geht es am Regierungssitz Consolat de Mar in Palma, mit den wuchtigen Kanonen davor. Die Tür ist geöffnet, der Kronleuchter strahlt. Ob Ministerpräsidentin Francina Armengol dort gerade über weitere Öffnungsmaßnahmen sinniert? Nebenan die gotische Seehandelsbörse Lonja. Der Platz davor, der sonst von unzähligen Tischen und Stühlen der Straßencafés belegt ist, weist gähnende Leere auf.
Weiter führen die Laufschuhe am Palmenhain Paseo de Sagrera entlang. Vorne links wachsen allmählich der Almudaina-Palast und die Kathedrale in den Himmel. Die Wasserfontäne im Teich vor der Stadtmauer sprüht ihren Strahl in das morgendliche Licht, unzählige Menschen gehen, laufen, walken, rennen, spurten, sprinten über das unebene Pflaster, angetan mit knalligen Jogginhosen, Trikots, Schirmmützen, Sonnebrillen - und immer wieder auch Masken.
Noch beliebter ist der Abschnitt auf der Promenade an der Meerseite, hier herrscht reges Kommen und Gehen. "Das ist eine tolle Stimmung", spricht eine Deutsche in ihr Mobiltelefon, "es sind so viele Menschen unterwegs!" Dafür hingegen so gut wie keine Autos. Polizeipräsenz? Ebenfalls Fehlanzeige.
Am Parc der la Mar ist der Spielbereich für Kinder weiter abgeriegelt. Im Sandkasten tummeln sich lediglich ein paar Tauben. Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper übersteigt die Absperrung. Hängend an der Querstange der Schaukeln macht er Klimmzüge und Rumpfbeugen.
Palmas Altstadtgassen im Calatrava-Viertel geben sich, wie üblich, nahezu menschenleer. Stop, nicht ganz. An einer Stelle sind zumindest Bauarbeiter dabei, das Pflaster auszubessern. Spanien arbeitet. Und sei es an einem Samstagvormittag, just nach dem Maifeiertag. An anderen Stellen des historischen Wohnquartiers ist es so still, dass man das sommerliche Kreischen der Mauersegler und Schwalben in den Lüften überdeutlich gellen hört.
Plaça de Sant Francesc, Plaça de Santa Eulària, der Rathausplatz Plaça Cort: Hier ist Palma eher beschaulich, flanieren gemächlich Passanten, meist ältere Semester, durch die mediterranen Licht-und Schatten-Straßen, mal alleine, mal paarweise, und dann oft mit ein bis zwei Meter Abstand voneinander. Ob sie durch die Masken den Duft der blühenden Rhododendren an der Plaça de Santa Eulària wahrnehmen?
Zurück zum Stadtbalkon vor der Kathedrale. Der Blick schweift über die See, folgt dem Lauf der Sonne Richtung Hafen, dem El-Terreno-Viertel und hinauf zur Burg von Bellver. Palma liegt im Südlicht, ein von Sandstein eingefasstes Juwel am Meer. Diesem Ort kann kein Virus die Schönheit, den Zauber je nehmen.
Weiter geht es über den Borne. Kurz vor 10 Uhr liegt er weitgehend verlassen da, offenbar sind die meisten Sportenthusiasten, so wie es die Regelung vorsieht, längst nicht mehr auf den Straßen, sondern bereits unter der Dusche. Nur wenige Passanten erfreuen sich an den mittlerweile wieder belaubten Platanen, die Palmas bekannteste Flaniermeile in einem frühlingshaften grünen Lichtschimmer einhüllen.
Am Kaufhaus El Corte Inglés in der Kolonnaden-Straße Jaime III. stehen knapp zwei Dutzend Menschen mit Schutzmasken im Säulengang an, um Einlass in die Lebensmittelabteilung zu erhalten. All die anderen Läden und Boutiquen in der Einkaufsstraße mit den teuersten Mietpreisen sind geschlossen, seit dem 15. März. Wer weiß schon, wie viele von ihnen nach überstandener Coronakrise den Betrieb wieder aufnehmen können.
Am Taxistand vier Taxis. Alle leer. Die Fahrer warten auf Kunden, die nicht kommen. Auch der Bus, der vorbeifährt, ist nahezu unbesetzt. Die Menschen, so scheint es, sind an diesem Tag vor allem zu Fuß unterwegs. Viele von ihnen atmen befreit auf, scheinen selbst unter den Masken ein Lächeln im Gesicht zu haben. "Wir sind nach draußen, um einfach nur die Sonne zu genießen", sagt ein junger Jogger, der mit seiner Freundin unterwegs ist. Sie wollen sich endlich wieder bewegen können. Die Palmesaner, die an diesem Samstag die Straßen beleben, haben nur eines im Sinn: Sich die neue Normalität nach Corona vor allem zu - erlaufen.