Wildwuchs verbirgt heute die Gedenktafel, die vor knapp 50 Jahren ein deutscher Musikwissenschaftler namens Rainer Maria Sessa am Eingang des Anwesens Son Vent in Establiments anbringen ließ. Der Forscher wandelte damals auf den Spuren eines der größten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Auf der Marmortafel ist die schlichte Inschrift zu entziffern: "A Fryderyk Chopin - Dr. Rainer Maria Sessa - Berlin 1969". Der polnische Komponist hatte 131 Jahre zuvor jenes Landgut in dem Ortsteil vor den Toren Palmas mehrere Wochen bewohnt, gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin, der französischen Schriftstellerin George Sand und deren Kindern.
Die sonnigen Novembertage können täuschen: Solange die Sonne scheint, wirkt das Wetter besonders frühlingshaft. Doch unerwartet rasch bricht der Abend an, die Temperatur sinkt und die Terrasse ist kein Ort mehr, um sich aufzuhalten. Im Jahre 1838 war das kaum anders. George Sand wurde Zeugin des launenhaften, unberechenbaren Herbstwetters auf Mallorca:
Wir waren seit drei Wochen in Establiments, als die Regenperiode einsetzte. Bisher hatten wir herrliches Wetter gehabt, die Zitronenbäume und die Myrthen blühten noch.
(Die Zitate stammen aus George Sands Roman "Ein Winter auf Mallorca", in der Übersetzung von Maria Dessauer.)
Das erstrebte Paradies wandelt sich allmählich zum Unbehagen. Es kommen Kälte und Feuchtigkeit. Der November ist tatsächlich einer jener Monate auf Mallorca, in denen man sich leicht eine Erkältung einfängt. So war es auch im Falle Frédéric Chopins, als er in Son Vent wie ein verwaistes Kind die Ankunft des bestellten Pleyel-Klaviers erwartete.
Einer von uns erkrankte; er war von zarter Konstitution, hatte eine starke Kehlkopfentzündung bekommen und litt bald unter den Wirkungen der Feuchtigkeit. Das Haus des Windes (Son Vent im dortigen Dialekt), die Villa, die uns Señor Gómez vermietet hatte, wurde unbewohnbar. Die Mauern waren so dünn, dass der Kalk, mit dem die Wände beworfen waren, sich wie ein Schwamm vollsog. Nie habe ich so sehr unter Kälte gelitten, obwohl es in Wirklichkeit nicht sehr kalt war. Aber für uns, die wir es gewohnt sind, im Winter zu heizen, lastete dieses Haus ohne Kamin wie ein eisiger Mantel auf unseren Schultern.
Aus dieser Textstelle lässt sich unschwer ableiten, dass die Erkrankung des Komponisten nicht dem bekannten Dorf Valldemossa zuzuschreiben ist, sondern dass er sich bereits in der unscheinbaren Gemeinde Establiments einen Infekt zugezogen hatte.
Chopins und Sands dreimonatiger Besuch auf Mallorca hat Valldemossa berühmt gemacht. Zahlreiche Bücher sind darüber geschrieben worden, ein Dutzend Filme gedreht worden. Jährlich besuchen Hunderttausende von Touristen das Bergdorf. Sogar die Justiz musste sich vor wenigen Jahren indirekt mit dem Aufenthalt des illustren Paares befassen und entscheiden, welche der diversen Klosterzellen in der Kartause nun tatsächlich den beiden als Unterkunft gedient hatte.
Im Vergleich dazu wurde nur ganz wenig über den ersten Unterschlupf des Paares in Establiments bekannt. Dabei widmete Madame Sand in ihrem berühmt gewordenen Buch zwei Kapitel über die auf der Finca Son Vent verbrachte Adventszeit. Im Kapitel 6 ist sogar eine nahezu geographische Beschreibung zu Establiments zu finden:
Die Insel verdankt die große Vielfalt in ihrem Landschaftsbild der ständigen Bewegung, von der ein von späteren erdgeschichtlichen Katastrophen als denen der ursprünglichen Welt erschütterter und umgepflügter Boden Zeugnis ablegt. Der Establiments genannte Teil, in dem wir damals wohnten, umschloss in einem Gesichtskreis von wenigen Meilen ganz verschiedenartige Ausblicke.
Beim Blick aus der Ferne scheint sich Son Vent kaum verändert zu haben. Abgesehen von einem naheliegenden Steinbruch ist die heutige Finca in etwa so erhalten geblieben, wie zur Zeit von George Sand und Frédéric Chopin. Das Liebespaar war dort im Spätherbst eingetroffen. Sand schrieb später in ihrem Werk "Ein Winter auf Mallorca":
In den ersten Dezembertagen blieb ich im Wohlgefühl köstlicher Wärme bis fünf Uhr morgens auf der Terrasse.
Verdankt Son Vent seinen heutigen Zustand ebenfalls den angeblich "unfreundlichen und fremdenfeindlichen Mallorquinern", wie sie damals von Sand kritisiert wurden? Der Garten ist verwildert, überall wuchern Unkräuter, Teile der alten Trockensteinmauern sind eingestürzt. Das Haus scheint selbst erkrankt zu sein, wie einst der berühmte Pianist in dessen vier Wänden.
Im Jahre 2009 verkaufte die letzte einheimische Eigentümerfamilie das Anwesen an einen Schweizer. Seitdem hat sich auf der Finca offenbar kein Schlag mehr getan. Das Gelände wirkt verwahrlost. Anzeichen einer umgehenden Sanierung sind nicht zu erkennen. In der Nummer 171 des Carrer des Clot frönt die Natur dem Wildwuchs. Die ungestutzten Pflanzen reichen fast bis an die obere Etage des Gebäudes. Der Haupteingang ist mit Brettern und Ziegelsteinen zugemauert. Daneben lesen Passanten auf einem zweiten Gedenkstein von 1988 auf Katalanisch: "In Erinnerung an zwei universelle Kunstschöpfer, George Sand und Frédéric Chopin, die 1838 in diesem Haus wohnten".
Ein Schlauch und eine Leiter liegen am Boden und sind die einzigen Belege für menschliche Aktivität. Die Treppe, die zur Terrasse hinaufführt, ist von Schlingpflanzen umrahmt, als handelte es sich um ein Schloss aus Grimms Märchen.
Die französische Schriftstellerin wäre mit dem jetzigen Zustand des "Haus des Windes" sicherlich ebenfalls wenig zufrieden. Wer weiß, vielleicht wäre sie sogar noch erzürnter als damals. Beinahe zwei Jahrhunderte nach ihrem Besuch ist das künftige Geschick der Finca vollkommen ungewiss.
(aus MM 53/2016)