MM: Herr Schmidt, wir haben gehört, dass Sie nicht nur auf
Mallorca sind, um Urlaub zu machen, sondern an einem neuen Buch
schreiben. Woran arbeiten Sie gerade?
Helmut Schmidt: Ich mache überhaupt keinen Urlaub, ich bin nur
hier, um zu arbeiten. Aber ich rede nicht über ungelegte Eier. Das
Buch wird erst in zwei Jahren fertig.
MM: Das heißt, es wird ein umfangreiches Werk?
Schmidt: Nein, es wird nicht sehr dick. Aber ich brauche dazu immer
Schreiburlaub. Neben meiner normalen Arbeit zu Hause kann ich das
nicht. Der nächste Schreiburlaub kommt im Sommer.
MM: Warum kommen Sie dazu ausgerechnet nach Mallorca?
Schmidt: Ich kenne Mallorca schon über 30 Jahre. Normalerweise ist
das Klima im März hier sehr angenehm, diesmal hatte ich ein wenig
Pech mit dem Wetter. Im Januar oder Februar fahre ich normalerweise
nach Gran Canaria, im Frühjahr hierher. Aber nur zum Arbeiten. Ich
genieße die Ruhe dieses Hotels und den unaufdringlichen Service.
Urlaub mache ich zu Hause in Holstein.
MM: Könnten Sie sich vorstellen, wie viele andere Deutsche
Ihren Ruhestand im Süden zu genießen?
Schmidt: Nein. Ich habe keinen Ruhestand. Ich bin nach wie vor
jemand, der beinahe 60 Stunden arbeitet in der Woche. Vor allen
Dingen muss ich jeden Tag in meine Zeitung.
MM: Können Sie es nachvollziehen, dass bestimmte
Berufsgruppen auf die Straße gehen, weil sie ein paar Minuten pro
Woche länger arbeiten sollen?
Schmidt: Dass sie demonstrieren, kann ich nachvollziehen, dass sie
streiken, kann ich nicht billigen.
MM: Die Einstellung der Menschen zu Europa ist heute anders
als früher, wie ist das zu erklären?
Schmidt: Die frühere Angst vor den mächtigen, bedrohlichen
Deutschen gibt es heute nicht mehr, ebensowenig haben die Menschen
heute Angst vor einem Krieg. Deshalb besteht heute nicht mehr das
ursprüngliche Gefühl der Notwendigkeit eines vereinten Europa.
MM: Heute stehen für die Menschen andere Bedrohungen an
erster Stelle: der Terrorismus.
Schmidt: Wenn man sich die Entwicklung zwischen dem gesamten Islam
– das sind über eine Milliarde gläubiger Muslime – und dem gesamten
Westen ansieht, dann kann man nicht total ausschließen, dass es
hier zu ganz erheblichen Spannungen und vielleicht auch zu Kriegen
kommen wird. So erleben wir es seit 50 Jahren zwischen
Palästinensern und Israel, und zum zweiten Mal im Irak. Das kann
jeden Tag wieder passieren.
MM: Sie sind in Ihrem Leben vielen großen Persönlichkeiten
begegnet, haben viele interessante Menschen kennengelernt. Gibt es
Personen, die Sie besonders beeindruckt haben?
Schmidt: Es gibt eine ganze Menge Leute, die mich beeindruckt
haben, deshalb wäre es ein bisschen irreführend, einen oder zwei zu
nennen. Ich will gleichwohl einen besonderen Menschen herausheben,
den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar al Sadat, 1981 ermordet.
Das war ein wunderbarer Kerl. Er war Berufssoldat, General, und ein
gläubiger Muslim. Er hatte in vier Kriegen gegen Israel mitgekämpft
und war als Staatspräsident im Alter von über 60 Jahren zu der
Einsicht gelangt, es müsse Frieden hergestellt werden zwischen
Arabern und Israelis, zwischen Muslimen und Juden. Er kannte auch
das Christentum sehr genau. Er war überzeugt von der Idee, dass man
die Menschen von den Gemeinsamkeiten aller monotheistischen
Religionen überzeugen müsse, um Frieden herzustellen. Er hat sich
selbst eingeladen bei seinem Gegner aus vier Kriegen, und hat
geredet vor der Knesset in Jerusalem. Er hat bewusst sein Leben
riskiert und ist auch prompt umgebracht worden von seinen
Muslimbrüdern.
MM: Gibt es noch Dinge, die Sie gern verändern würden, oder
die Sie aufregen?
Schmidt: Nein, ich bin eigentlich in meinem ganzen Leben sehr
selten aufgeregt gewesen, ich neige nicht dazu. Auch wenn einem
eine Sache zu Herzen geht oder es gefährlich wird oder schwierig zu
handeln – Aufregung ist nicht gut.
MM: Welche Pläne und Ziele haben Sie heute?
Schmidt: Ich habe keine Ziele mehr, aber Pläne schon. Zum Beispiel
habe ich die letzten 25 Jahre alle zwei Jahre ein Buch geschrieben.
Jetzt ist wieder eins so gut wie fertig, es wird im Herbst
erscheinen, und das, an dem ich gerade arbeite, in zwei Jahren. Das
sind Pläne.
MM: Sie sind ziemlich genau vor 60 Jahren in die SPD
eingetreten, im März 1946, hat sich die Partei in den Jahren sehr
verändert, fühlen Sie sich noch wohl in der SPD?
Schmidt: Ich bin schon früher, 1945, zu den Sozis gegangen. Ist
schon lange her. Natürlich hat die Partei sich verändert, alles
verändert sich, sogar die Musik. Wenn sie sich Aufnahmen einer
Beethovensinfonie aus verschiedenen Jahren und mit verschiedenen
Dirigenten anhören, klingen sie völlig unterschiedlich, obwohl es
dieselben Noten sind. Als Beethoven komponiert hat, gab es noch
keine Steinway–Flügel.
MM: Mögen Sie moderne Musik?
Schmidt: Kommt drauf an, was Sie meinen.
MM: Robbie Williams?
Schmidt: Kann ich nicht beurteilen.
MM: Nora Jones?
Schmidt: Ich habe nichts dagegen.
MM: Haben Sie noch Leidenschaften außer Arbeit und
Musik?
Schmidt: Es gibt keine Leidenschaften mehr. Ich kann keine Musik
mehr hören. Ich kann noch Klavier spielen, und weiß, wie es für
Ihre Ohren klingt, aber für mich klingt es schauderhaft. Ich bin
früher viel gesegelt, auch das kann ich heute nicht mehr. Nein, in
diesem Alter kann man sich keinen Leidenschaften mehr hingeben.
MM: Als Politiker und Zeitungsmacher müssen Sie ein ganz
besonderes Verhältnis zu den Medien haben.
Schmidt: Ja, und der Unterschied zwischen Politikern und
Journalisten ist nicht groß. Die reichen beide vom Verbrecher bis
zum Staatsanwalt.
MM: Sind die Medien mit schuld an der
Politikverdrossenheit?
Schmidt: Absolut, aber das werdet ihr nicht ändern, denn dafür
müsstet ihr euch selbst ändern, und das werdet ihr nicht. Solange
die Maxime gilt „Bad news is good news” und Normalität ohne
Interesse bleibt, hat es keinen Zweck, darüber zu philosophieren.
So, meine Damen ... (greift zur Prinz–Heinrich–Mütze und erhebt
sich)
MM: Jetzt geht's wieder an den Schreibtisch?
Schmidt: Nein, heute ist mein letzter Tag, da nehme ich mir
erstmals frei und mache einen Ausflug nach Sóller. Ich habe bisher
nur gearbeitet, das schlechte Wetter war ideal, heute mache ich
eine Ausnahme.
Mit Helmut Schmidt sprachen die MM–Redakteurinnen Anja Marks
und
Gabriele Küster.