Er gehört zu Palma wie die Kathedrale und die Burg von Bellver, und für viele Menschen ist er so selbstverständlich, als ob er ebenso lange existiert wie die beiden anderen Wahrzeichen der Stadt. Die Rede ist vom Paseo Marítimo, Palmas urbaner Meerespromenade.
Millionen von Menschen - Urlauber wie Residenten - rollen jedes Jahr über die sechsspurige Achse, vorbei an Palmen, Yachten, Hochhäusern und Nachtclubs. Hunderttausende wohnen dort, mit einem Freiblick auf Palmas Hafen: Je höher das Apartment in den 15-stöckigen Wohntürmen schwebt, desto imposanter das Panorama auf die Molen, Dampfer und das dahinter liegende Meer. In schwindelnder Höhe bewegen sich auch die Immobilienpreise.
Und jedes Wochenende wird der Paseo Marítimo zum Laufsteg für Zehntausende von Erlebnishungrigen, die dort die Nacht zum Tag machen und von Designerbar zu Musikclub zu Diskothek ziehen, ein atemberaubender Jahrmarkt der Eitelkeiten, begleitet von einem Kommen und Gehen wie auf kaum einem anderen Bürgersteig der Stadt.
Kaum zu glauben, dass genau an der Stelle noch vor einem halben Jahrhundert Wogen anbrandeten und Gischt an den Felsen der Steilküste aufschäumte. Party-People, die sich in der Diskothek Abraxas oder im Eingangsbereich des Tito's über die skurrile Wanddekoration aus schroffem Gestein wundern, sei gesagt, sie stehen just an der ehemaligen Trennungslinie des feuchten und des trockenen Elements. Die heutigen Tanztempel sind quasi an die alten Klippen angeklebt.
Die Eröffnung des Paseo jährte sich zum 50. Mal: Im April 1958 durchschnitt Zivilgouverneur Plácido Álvarez das Band und gab die künstliche Küstenstraße - je eine Spur in jede Fahrtrichtung - für den embrionalen Autoverkehr frei.
Der Paseo Marítimo veränderte das Stadtbild Palmas von Grund auf. Die Arbeiten an dem Mammutprojekt hatten bereits 1950 begonnen. Das gigantische Werk wurde zum Teil mit primitivsten Mitteln gestemmt. Zwar wurden die tonnenschweren Betonquader, auf denen die Straßentrasse des Paseo verläuft, einer nach dem anderen von einem Schwimmkran im Wasser versenkt. Doch der Bauschutt und die Gesteinsbrocken zum Auffüllen der Fläche zwischen dem alten Uferbereich und der neuen Asphalttrasse wurden noch per Eselskarren herangeschafft, erinnert sich Gabriel Sabrafín. Der damals Neunjährige lebte direkt am Meer - beim heutigen Auditorium (siehe S. 22).
Forderungen nach dem Bau eines Paseo Marítimo wurden schon früher laut. 1936 schrieb Mallorcas Grandseigneur der Literatur, Llorenç Villalonga, in der Zeitschrift "Brisas", Palma und seine In-Viertel Son Alegre und El Terreno seien "in selbstmörderischer Weise" vom Meer abgewandt. Wenn man als Stadt des Tourismus den Anschluss nicht verpassen wolle, sei eine mondäne Flaniermeile notwendig. Villalonga warb für eine zweite "Promenade des Anglais" wie in Nizza an der Côte d'Azur. Palma dagegen biete nur wenige felsige Badeplätze zwischen den Windmühlen von Es Jonquet und Porto Pi, lamentierte der Literat, der selbst ein begeisterter Schwimmer war. Nach seinen Worten wollten die Gäste aus dem Ausland das Meer sehen können. Doch wer in Palma in die Straßenbahn steige (die es damals gab), erblicke von Santa Catalina bis Calamajor das Meer stets nur zwischen den Häusern hindurch (gemeint sind die Villen, die damals oben auf der Steilklippe über dem Wasser thronten.) Palma vertue "gleich einem dummen Mädchen" seine Zeit. Unabdingbar sei eine "luxuriöse Flaniermeile, ein Paseo, wo sich Strandbäder, Cafés und Wassersport-Clubs etablieren könnten - mit Blick aufs Mittelmeer".
Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs unterbricht alle Initiativen für einen Paseo Marítimo. Nach dem Krieg verfolgte das Franco-Regime ehrgeizige Pläne, Palma zu einer großen Marinebasis auszubauen. Noch in den 1950er Jahren war der Personalstand des Militärs im Vergleich zu heute um ein Vielfaches höher. Auf der Insel gab es kasernierte Einheiten, die Küstenbatterien rund um Palma waren permanent besetzt und schussbereit.
So ist es offiziell die staatliche Hafenbehörde, die hinter der Entscheidung steht, dem Meer Land für eine Straße abzuringen. Das strategische Bauwerk sollte die Alte Mole mit dem Marinehafen von Porto Pi und der Militärfestung San Carlos verbinden. Aus diesem Grund trägt der Paseo Marítimo die Bezeichnung "Vía de comunicación portuaria", also Hafen-interner Verbindungsweg. Möglich machte dieses Vorhaben allerdings erst ein anderes, wichtiges Bauwerk: Der Dic de l'Oest, errichtet in den Jahren 1941 bis 1956. Der 1'6 Kilometer lange Westkai schirmt Palmas Küste vor den Wellen des offenen Meeres ab. Erst in seinem Schutz konnte der Paseo Marítimo entstehen.
Die Annäherung des isolierten Franco-Regimes an die USA Mitte der 1950er Jahre ließ indes die militärischen Pläne immer stärker in den Hintergrund treten. Dafür eröffnete der Paseo Marítimo der begüterten Oberschicht der Insel, die mit der Machtelite des Regimes identisch war, ein neues Terrain für Investitionen. Die Grundstücke auf und an dem gewonnenen Neuland erfuhren einen ungeahnten Wertzuwachs, es schlug die Stunde der Immobilienspekulation, ein Bauboom ohnegleichen setzte ein. Er ließ die bis zu 20 Meter hohe Steilküste Palmas allmählich hinter Beton verschwinden.