In der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums durch das Hitler-Regime nimmt sich das Schicksal der deutschen Familie Heinemann wie eine winzige Fußnote aus. Eine Tragödie wie viele Millionen andere. Aber das Unrecht trug sich ausgerechnet auf Mallorca zu und veranschaulicht in eindringlicher Weise, dass es vor den Nazis und ihren Helfershelfern sehr oft kein Entkommen gab. In ihrem Macht- und Einflussbereich versuchten sie ohne Gnade jeden auszulöschen, der nicht in ihr ideologisches Rasse- und Weltbild passte.
Die Sonneninsel Mallorca hatte sich im Sommer 1940 für Ernst und Irene Heinemann längst in ausweglose Finsternis verwandelt. Dem jüdischen Ehepaar aus Magdeburg drohte die Ausweisung an Hitler-Deutschland. Ein Schreiben der franquistischen Geheimpolizei in Palma vom 10. Juli stellte unmissverständlich klar, das Paar habe zehn Tage Frist, Spanien zu verlassen.
Hitler befand sich zu jenem Zeitpunkt in seinem Zenit: Polen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Frankreich waren in Blitzkriegen von der Wehrmacht unterworfen worden. Der Naziführer hielt West- und Nordeuropa in seiner Faust und erschien unbesiegbar.
Was eine Auslieferung an Deutschland für sie als Juden bedeuten würde, darüber machten sich Ernst und Irene Heinemann - er 62-jährig, sie 51 Jahre alt und herzkrank - keine falschen Hoffnungen. Solange ihnen noch Verwandte und Freunde schreiben durften, hatte das Paar von den zunehmenden Repressalien und Terroraktionen in Deutschland gegen jüdische Mitbürger erfahren.
Die Heinemanns hatten dem "erwachten Deutschland" bereits im August 1933 den Rücken gekehrt, weil die nicht-religiöse Familie an ihrem Lebensort in Magdeburg keine Zukunft mehr für sich und die Töchter Lore und Gisela sah. Die Eltern zogen nach Mallorca. Der Diplomingenieur im Ruhestand lebte mit seiner Frau, einer Kindergartenlehrerin, von einer kleinen Pension, die ihm sein ehemaliger Arbeitgeber, eine US-Firma (die in Magdeburg Heizungen gebaut hatte) aus Amerika überwies.
1940 in Palma besaßen Ernst und Irene Heinemann kein Visum für ein sicheres Drittland. Es bestand auch nicht die Aussicht, noch rechtzeitig ein solches Papier zu erhalten. So schrieben die Eltern einen bewegenden Abschiedsbrief an ihre erwachsenen Töchter, die im besetzten Frankreich vor der Wehrmacht untergetaucht waren, und nahmen sich in der Nacht zum 21. Juli in ihrer Mietwohnung in Palma mit Schlaftabletten das Leben. Mallorquinische Freunde organisierten eine würdevolle Beerdigung. Noch heute leben Menschen auf der Insel, die als Kind das freundliche deutsche Ehepaar kennen und schätzen gelernt hatten.
Das Mallorca Magazin hatte 2004 und 2005 exklusiv über das Schicksal der Familie Heinemann berichtet. Vergangene Woche befand sich nun Ernst-Peter Krüger, Enkel von Ernst und Irene Heinemann, auf Mallorca. Der Grund: Ein Fernsehteam des "ARD Politmagazin Report München" dreht an Originalschauplätzen einen Beitrag, der in wenigen Wochen ausgestrahlt werden soll (MM wird den genauen Termin noch bekanntgeben.)
Für den 63 Jahre alten Ernst-Peter Krüger war es die zweite Reise auf jene Insel, die seinen Großeltern zur Todesfalle geworden war. Bereits im April 2005 hatte der Berliner Tourismusunternehmer seine damals 91-jährige Mutter Lore Krüger, geborene Heinemann, nach Mallorca begleitet. MM-Leser wissen, dass Lore Krüger 65 Jahre nach dem Tode ihrer Eltern erstmals an deren Grab treten und sich dort von ihnen verabschieden konnte. Es war ein sehr emotionaler Moment, als die kleine, weißhaarige Dame an jenem kalten, grauen Tag sich auf dem knirschenden Kies der Friedhofsweges dem verwitterten Grabstein näherte und schweigend davor verharrte. Dann streckte sie zaghaft den Arm aus und berührte die Inschrift "A la Memoria de Ernesto e Irene Heinemann".
"Es hat mich damals sehr bewegt, wie meine Mutter den Grabstein streichelte", erinnert sich Ernst-Peter Krüger an jenen Tag vor fünf Jahren. Der erzwungene Tod seiner Großeltern auf Mallorca sei für ihn immer sehr weit weg gewesen. Zwar sei es nicht tabu gewesen, über die Eltern seiner Mutter zu sprechen; doch oft sei das Thema nicht zur Sprache gekommen. Es entstand eine "Leerstelle", die zwar nicht schmerzte, aber sonderbar irritierte. "Erst, als ich sah, wie meine Mutter den Grabstein berührte, habe ich meine Wurzeln gefühlt. Da war schlagartig eine persönliche Beziehung zu meinen Großeltern da, so, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte."
Es hatte fast ein ganzes Leben gedauert, bis Lore Krüger tatsächlich an das Grab ihrer Eltern treten konnte, um dort innerlich Abschied nehmen zu können. Denn viele Jahrzehnte hatte die Berlinerin in dem Glauben gelebt, das Grab existiere nicht mehr.
MM-Redakteur Alexander Sepasgosarian hatte Lore Krüger im September 2004 im Osten Berlins besucht, um das Schicksal der Heinemanns zu dokumentieren. Bei diesem Treffen bedauerte Krüger, nie die Grabstätte ihrer Eltern zu Gesicht bekommen zu haben. Alles, was sie besaß, war ein unscharfes Foto vom Grabstein, eine Kopie in Schwarz-Weiß, die ihr Freunde ihrer Eltern einst hatten zukommen lassen. Die Antifaschistin Krüger hatte Spanien erst wieder bereist, nachdem der ihr verhasste Diktator General Franco 1975 gestorben war. Als sie kurz danach den Friedhof in Palma aufsuchte, hieß es, das Grab existiere nicht mehr.
Eine Erklärung, die plausibel schien. Gerade jener Winkel des Friedhofs, in dem einst Nicht-Katholiken bestattet worden waren, war in späteren Jahren verkleinert und überbaut worden.
Zwei Monate nach dem Besuch in Berlin dann die Sensation: Bei einem Rundgang über den Friedhof im Rahmen einer Reportage zu Allerheiligen - zu jenem Feiertag schmücken die Mallorquiner die Gräber ihrer Toten aufwendig mit Blumen - kommt MM-Redakteur Sepasgosarian zufällig an jenem Grabstein vorbei. Ungläubig starrt er auf die Inschrift, die mit der Kopie übereinstimmte. Nachfragen bei der Friedhofsverwaltung ergeben: Das ist die originale Grablage, der Stein wurde nie verändert oder versetzt.
Wie bringt man einer 91-Jährigen, noch dazu am Telefon, schonend bei, dass das verschollen geglaubte Grab ihrer Eltern doch noch existiert? Auch dazu ist Sepasgosarian gemeinsam mit Ernst-Peter Krüger vergangene Woche von dem Fernsehteam der ARD befragt worden.
Die Kinder Lore Krügers, Tochter Susan und Ernst-Peter, haben mittlerweile auch einen Verlag für die Memoiren gefunden, die ihre Mutter noch kurz vor ihrem Tod im März 2009 fertigstellte. Das Buch soll im Frühjahr 2011 erscheinen. (red)