Eine leichte Brise weht durch die weit geöffneten Fenstertüren, eine Möwe kreischt und eine Gruppe Urlauber spaziert plaudernd über die Stadtmauer von Palma de Mallorca, die zum Greifen nah am schmalen Balkon des historischen Gebäudes vorüberführt. Ein Stück weiter glitzert der künstliche See im Parc de la Mar, der sich rechter Hand bis zur Kathedrale zieht. Am Horizont: das Meer.
Der Anblick lässt einen unwillkürlich erstarren. Schlicht und einfach, weil damit nicht zu rechnen war. Wenige Meter zuvor noch ging es durch einen schmalen Gang mit Kunstlicht, ein paar Treppenstufen hinunter und dann ganz plötzlich also dieses Panorama. Rechts und links davon an den Wänden reichen die Bücherregale bis unter die Decke.
Es handelt sich um die Bibliothek der balearischen Architektenkammer in Palmas Altstadt. Das barocke Gebäude, der einstige Adelssitz Cal Marquès de la Torre, stammt aus dem späten 17. Jahrhundert und war am Wochenende im Rahmen des Architekturfestivals Open House zu besichtigen – ebenso wie 66 weitere Bauwerke. Das Angebot umfasste dabei die gesamte architektonische Vielfalt der Inselhauptstadt, die vom Mittelalter bis in die Neuzeit reicht.
Neben Altbekanntem wie der Kathedrale, dem Rathaus, dem Sitz der Balearen- und der Insel-Regierung sowie der früheren Seehandelsbörse Llotja, die Bestandteil vieler touristischer Stadtführungen sind, öffneten auch zahlreiche Gebäude Besuchern ihre Tore, die sonst nicht frei zugänglich sind. Es gab also Einblicke, die selbst für Palma-Kenner neu sind.
Etwa an der Plaça de l’Olivar, dem Platz der zentralen Markthalle in Palma. Gleich nebenan ragt die Kuppel der dem Heiligen Antonius gewidmeten Kirche in die Höhe. Unmittelbar davor ein auf den ersten Blick unscheinbares Bürogebäude, in deren Erdgeschoss sich mehrere Bars und eine Eisdiele befinden. Die Fensterfront ist im nüchtern-rationalistischen Stil der 1950er-Jahre gehalten.
„Wenn man genau hinsieht, dann fällt auf, dass immer eine Säule auf drei Fenster folgt”, erklärt die ältere Dame, die an diesem Samstagmorgen als Freiwillige den Besuchern dieses Beispiel moderner Architektur in Palma näherzubringen versucht. Sie interpretiert es als Anspielung des Architekten Rafael Pomar auf die Heilige Dreifaltigkeit und somit auf das benachbarte Kirchengebäude.
Weitgehend unverändert geblieben ist bis heute das Innere des Hauses, das man üblicherweise nicht zu sehen bekommt. Mühsam rumpelt der klapprige Aufzug in die dritte Etage, in der eines der Büros nun zu einer kleinen Zweizimmerwohnung umgebaut wurde. Der Eigentümer hat das schick mit Marmor und viel Holz hergerichtete Mini-Apartment mit Blick über die Markthalle anlässlich des Architekturfestivals zugänglich gemacht, das jetzt zum vierten Mal in Palma stattfand.
Ein paar Kilometer Luftlinie entfernt davon ist Eva Maria Schneider im Einsatz. Die deutsche Inselresidentin hat sich auch in diesem Jahr als Freiwillige gemeldet, nachdem sie bereits im vergangenen Jahr dabei war. „Ich hatte einen Aufruf in der Zeitung gelesen”, sagt sie. Und so führt sie nun im leichten Nieselregen eine Besuchergruppe über das Gelände der Psychatrie in Palma.
Vollkommen von der Außenwelt abgeriegelt, wurden hier die Patienten lange Zeit weggesperrt. Jetzt will man die Anlage umgestalten und zur Stadt hin öffnen, erklärt Schneider. Die hohen Mauern kamen weg, das parkähnliche Gelände ist inzwischen frei zugänglich. Und so kann jedermann einen Blick auf die letzten Überreste des Franziskaner-Klosters werfen, das einst an dieser Stelle stand, sowie auf die Jugendstil-Elemente an der Fassade eines der Hauptgebäude.
„Ich finde das sehr interessant, mich mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen”, sagt Schneider. Durch die Teilnahme an dem Architekturfestival komme sie mit vielen neuen Themen in Berührung. „Daraus schöpfe ich Inspiration.” Insgesamt waren am Festivalwochenende fast 300 Freiwillige im Einsatz. 12.000 Besucher nahmen an den Führungen sowie am restlichen Programm teil.
Etwa an dem Rundgang durch das schicke, 2022 eröffnete Stadthotel HM Palma Blanc. Auffällig daran ist vor allem die geschwungene Fassadenverkleidung aus weißem Aluminium, die eigens aus Bergamo herbeigeschafft wurde. Ansonsten setzte der Architekt überwiegend auf lokale Produkte. So dient in einem der Flure mit Flammenstoffen bezogene Vertäfelung als Lärmdämmung, wie die Freiwillige vor Ort erklärt. An einer der Wände in der Eingangshalle wachsen Dutzende Tillandsien und die Rezeption ist im Stil einer Trockensteinmauer gehalten.
Eindrucksvoll aber ist vor allem, wie das Hotel inmitten der traditionellen Wohnbebauung des Viertels liegt: ringsherum ragen die Hochhäuser in den Himmel. Nur wenige Meter vom Pool auf der weitläufigen Dachterrasse entfernt sitzt eine junge Frau auf ihrem winzigen Balkon und raucht. Wie kaum irgendwo anders wird hier das Motto der diesjährigen Auflage des Architekturfestivals greifbar: La ciutat per a qui l’habita: Die Stadt denen, die in ihr wohnen.
Die Veranstaltung richtet sich in erster Linie an Einheimische, nicht an Touristen. So finden die Führungen in der Regel auf Spanisch oder Katalanisch statt. Eine der Ideen hinter dem Festival ist, den Bewohnern Palmas ihre Stadt näher zu bringen. Deshalb liegt besonderes Augenmerk auf der Neustadt, jenseits des historischen Zentrums.
Eines der herausragenden Bauwerke moderner Architektur in Palma ist zweifellos der Sitz des Meeresforschungsinstituts Centre Oceanogràfic de Balears am Fährhafen. Das würfelartige Betongebäude, das 1973 eingeweiht wurde und dem Brutalismus zuzuordnen ist, stammt vom Architekten Vicenç Roig Forné. Es liegt inmitten einer Gartenanlage, in der in diesen Tagen Bootsflüchtlinge campieren, die auf die Überfahrt zum Festland warten.
Im Inneren gruppieren sich die Büros und Labore um ein nicht mehr genutztes Becken, in das einst Wasser plätscherte. Durch die in das gewellte Dach integrierten Fenster fällt indirektes Licht in den Innenraum. Wer genau hinsieht, entdeckt an den Betonwänden noch die Abdrücke der Maserung, die von der während des Bauprozesses genutzten Holzverschalung stammen.
Das ist auch bei dem Gebäude der Fall, in dem Kammer der Bauleiter und technischen Architekten seinen Sitz hat, das Col·legi Oficial d’Aparelladors i Arquitectes Tècnics. Es liegt mitten im El-Terreno-Viertel und ist unschwer an seiner charakteristischen Fassade aus rostfreiem Stahl zu erkennen. „Die Bauarbeiten in den 1980er-Jahren wurden von heftigen Protesten der Anwohner begleitet”, erklärt die Freiwillige vor Ort. Bis dahin hatte es in der Gegend nur Wohnhäuser im traditionellen, regionalistischen Stil gegeben.
Leider ist das einst ringsherum offene Erdgeschoss im Rahmen eines Umbaus später geschlossen worden und auch der Springbrunnen, den es dort gab, ist verschwunden. Erhalten ist dagegen die überaus akkurat gearbeitete Decken-Vertäfelung aus Teakholz. Außerdem hat im Versammlungssaal in einem der Obergeschosse das originale Mobiliar die Jahre überdauert – zu erkennen nicht zuletzt an den in die Sitze integrierten Aschenbechern.
Ebenfalls stehengeblieben scheint die Zeit in den Katakomben der Stierkampfarena, des Coliseu Balear. Zwar gelangt man im Rahmen von Konzerten oder eines der raren Stierkämpfe, die dort noch immer stattfinden, in das Gebäude, nicht aber in die unter den Tribünen befindlichen Räumlichkeiten. In einem büroähnlichen Raum etwa hängen über dem 50er-Jahre-Mobiliar an den Wänden die präparierten Köpfe besonders wackerer Stiere.
Das Coliseu Balear stammt von Gaspar Bennàssar, einem der bedeutendsten mallorquinischen Architekten des 20. Jahrhunderts und entstand in den Jahren 1928/29, wie der Open-House-Freiwillige erklärt. Die kurze Bauzeit sei dem Umstand geschuldet, dass dabei Material genutzt werden konnte, das von der alten Stierkampfarena stammte, die sich zuvor innerhalb der Altstadt befunden hatte und nach dem Abriss der Stadtmauern zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Neustadt verlegt wurde.
Letzte Überreste der Stadtmauer gibt es in Palma am Baluard de Sant Pere, dort, wo sich das Museum für moderne Kunst Es Baluard befindet. Im unteren Teil des Bollwerks ist ein ehemaliger Luftschutzkeller erhalten, der ebenfalls im Rahmen des Architekturfestivals zu besichtigen war. Ein langer, schmaler Gang führt dort in die Dunkelheit. Während des Spanischen Bürgerkrieges fanden hier Bewohner der angrenzenden Stadtviertel Zuflucht. Normalerweise ist davon nur eine unscheinbare Eisentür in der Mauer zu sehen. Manch einer wird sich vielleicht schon gefragt haben, wohin sie wohl führen mag. Auch dieses Geheimnis wäre also gelüftet.