Folgen Sie uns F Y T I R

„Liebe Urlauber, bitte bleibt zu Hause!“: Organisationen auf Mallorca veröffentlichen Anti-Tourismus-Brandbrief

Die Insel sei überlastet und stehe am Rande des Kollapses, heißt es in dem Schreiben. Die Initiatoren werfen Politik und Tourismuswirtschaft Untätigkeit vor und appellieren an das Verständnis der Besucher, nicht mehr anzureisen.

Im Juli 2024 demonstrierten in Palma zehntausende Menschen gegen die touristische Massifikation und die Situation am Mietmarkt. | Pilar Pellicer

| | Mallorca |

Mit einem Brandbrief haben sieben Umweltorganisationen sowie tourismusskeptische Vereinigungen auf Mallorca am Samstag einen regelrechten Paukenschlag in der Debatte um das erträgliche Ausmaß des Tourismus auf der Insel gesetzt. Der Brief beginnt in freundlichem Ton mit einem klangvollen "Liebe Touristen", aber sein Inhalt wird zunehmend schärfer, während die Unterzeichner ihre Erklärung fortsetzen und das ihrer Ansicht nach vorherrschende Gefühl der Empörung der Einwohner zum Ausdruck bringen. Wie die spanische MM-Schwesterzeitung Ultima Hora berichtet, erfolgte die Veröffentlichung des Briefes just zu einem Zeitpunkt, nachdem die Balearen-Regierung einige Maßnahmen zur Eindämmung der touristischen Massifizierung angekündigt hatte, die jedoch zumindest in diesem Sommer noch nicht umgesetzt werden können.

Zu den Initiatoren des Brandbriefes gehören bedeutende Umweltschutzgruppen wie der GOB, GADMA, und die Freunde des Coanegra-Tals in der Tramuntana, aber auch hinlänglich in Erscheinung getretene, tourismuskritische Gruppierungen wie SOS Residents, Menys turisme Més vida (Weniger Tourismus, mehr Leben) und weitere lokale Vereinigungen wie etwa die Alternative für Pollença oder bis dato weitgehend unbekannte Zirkel wie Brunzit. Sie alle protestieren in dem Schreiben gegen die touristische Überfüllung der Insel und fordern Verständnis dafür ein, „warum wir Mallorquiner jetzt sagen: Es reicht!“.

In dem dreiseitigen Schreiben, dass die die Tageszeitung Ultima Hora vollständig veröffentlicht hat, begründen die Vereinigungen ihre Motive damit, dass im Jahre 2024 erneut alle Besucherrekorde gebrochen worden waren. Auf Mallorca wurden 18,7 Millionen Besucher gezählt, fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Die Insel werde von der Tourismusindustrie und der Politik „bis an ihre Grenzen ausgequetscht“, heißt es in dem Schreiben. Selbst in angestammten Quellmärkten, aus denen die Urlauber nach Mallorca gelangen, werde auf weitere Vermarktung der Insel als Tourismusdestination nicht verzichtet. Daneben werde versucht, zusätzliche Quellmärkte in aller Welt zu erschließen.

Die Unterzeichner kritisieren, dass die Besucherzahlen in der Hochsaison nicht verringert werden, und dass für die Nebensaison und die übrigen Monate des Jahres über die Kommerzialisierung der Insel weitere Besucher angelockt werden. Die Rede ist von der „Habgier von Hoteliers, Politikern, Immobilieninvestoren“ und weiteren Nutznießern der Tourismusindustrie. All diese Entwicklungen führen nach Ansicht der Tourismusskeptiker zur Zerstörung des Territoriums und des Ökosystems, zu Problemen in der Infrastruktur, zur Überlastung der öffentlichen Dienste, zu Gentrifizierung und zum Rückgang der Lebensqualität.

Der in den spanischen Medien veröffentlichte Brandbrief wurde zudem in englischer Übersetzung an einzelne Personen und Medienvertreter gemailt (liegt MM vor). In dem Anschreiben heißt es unter anderem: „Die jüngsten Äußerungen von Lokalpolitikern und Hoteliers verleugnen mit großer Verantwortungslosigkeit diese offensichtliche Realität und fördern die Ankunft von noch mehr Touristen aus dem In- und Ausland. Wir haben es mit dem schlimmsten Sommer in der Geschichte Mallorcas zu tun: Alle Vorhersagen deuten darauf hin, dass 2025 alle historischen Rekorde in Bezug auf Besucherzahlen und Überfüllung erneut gebrochen werden, was zu einer Notsituation in einer empfindlichen Umwelt führen wird, die bereits jetzt unbewohnbar ist. Daher legen wir im Namen der unterzeichnenden Gruppen ein Schreiben vor, das unserer Meinung nach die Gefühle eines großen Teils der mallorquinischen Bevölkerung zum Ausdruck bringt, die nicht gehört wird.“

Das Schreiben der Tourismusgegner erfolgt gut eine Woche nach Abschluss der Internationalen Tourismusbörse in Berlin (ITB), der bedeutendsten Reisemesse in Deutschland, sowie nach der Ankündigung der balearischen Regierung vom Freitag vor einer Woche, Maßnahmen gegen die wachsende Besucherflut ergreifen zu wollen. Offenkundig werden die bislang angekündigten Vorhaben (wie etwa eine Erhöhung der Übernachtungssteuer für Touristen und Gebühren für nicht zugelassene Autos vom Festland) als unzureichend eingestuft.

Zum Hintergrund:

Die Auseinandersetzung daüber, wie viele Touristen für Mallorca verträglich sind, hatte es bereits vor der Corona-Pandemie gegeben. Dann kam der völlige Einbruch der Besucherzahlen und im Anschluss an den Lockdown danach der gewaltige Nachholbedarf der Menschen an Reise- und Freizeiterlebnissen im Urlaub. Mallorca ist wirtschaftlich extrem abhängig vom Tourismus, doch zugleich sind die negativen Auswirkungen, die durch den Tourismus ausgelöst werden, nicht von der Hand zu weisen. So hatte es 2024 auf Mallorca erste Massendemonstrationen gegen die strittigen Folgen des Massentourismus und der Situation auf dem Wohnmarkt gegeben. Mit dem Protestbrief der Unterzeichner dürfte die Diskussion um das richtige Ausmaß des Tourismus auf der Insel eine ganz neue Schärfe erhalten.

Lesen Sie hier im Folgenden den Original-Brandbrief der Tourismusgegner in deutscher Übersetzung:

Liebe Touristen, nahezu jeder weiß, dass Mallorca eine weltweit bekannte Insel ist. Historisch gesehen waren wir ein gastfreundliches Land, das strategisch im Mittelmeer liegt. Mallorca hat eine lange touristische Tradition. Wir haben in Sachen Tourismus Geschichte geschrieben. Bis noch vor kurzem war dies ein Grund, stolz zu sein, doch jetzt ist es unser größtes Problem geworden.

In den 1970er Jahren war Mallorca als die "Insel der Ruhe" bekannt. Gleichwohl sprechen wir hier von der Vergangenheit, einer nicht allzu fernen Vergangenheit, in der das Zusammenleben zwischen Touristen und Einheimischen im Gleichgewicht war. Es waren andere Zeiten, in denen die Touristen ihre Ferien auf Mallorca verbrachten, ein Teil der Bevölkerung für sie arbeitete, es aber auch andere produktive Branchen gab (Industrie, Landwirtschaft...). Die Einheimischen lebten in Frieden und Harmonie, weil jeder seinen Platz in einer fragilen und wunderbaren Umgebung einnahm.

Die Dinge haben sich geändert und Mallorca ist zu einem touristischen Top-Ziel geworden. Die Insel wurde bis an ihre Grenzen ausgequetscht, bis hin zum Kollaps, den wir derzeit erleben. Das Geld, das die Tourismusindustrie generiert, hat Menschen angezogen, die unsere Insel weltweit vermarkten; die Gier und Habgier von Hoteliers, Politikern, Immobilieninvestoren und "Nutznießer" jeder Art (im Originaltext auf Spanisch ist von „parásitos“ die Rede; Anm. des Übersetzers) haben uns in eine Notlage gebracht.

Es ist nicht nötig, die Probleme aufzuzählen, die uns Einwohnern zu schaffen machen und die allgemein bekannt sind: die Zerstörung der Landschaft und des Ökosystems, Probleme mit der Infrastruktur, überlastete öffentliche Dienste, Schwierigkeiten bei der Mobilität, eine Verringerung der Lebensqualität, Gentrifizierung, die unverhältnismäßige Verteuerung der Lebenshaltungskosten und die völlige Unmöglichkeit für die einheimische Bevölkerung, Wohnraum zu finden ...

Das hat es auf Mallorca noch nie gegeben, und die Zivilgesellschaft ist auf die Straße gegangen. Wir haben uns mobilisiert, um von unseren Politikern zu fordern, diese Situation zu regulieren und eine größere Katastrophe zu verhindern.

Aber überraschenderweise hören sie uns nicht an und ergreifen keine Maßnahmen, um dieses Drama zu beenden. Stattdessen leugnen sie die Realität und fördern weiterhin den Tourismus in den angestammten Quellmärkten, wie auf der Berliner Messe (gemeint ist die internationale Tourismusbörse in Berlin ITB; Anm. der MM-Red.), und schaffen sogar neue Märkte.

Ihr einziges Ziel ist es, die Besucherzahlen zu erhöhen und mehr Geld für eine Minderheit auf einer völlig überfüllten Insel zu generieren.

Einige Zahlen, um das Ausmaß des Problems zu verstehen, basierend auf veröffentlichten Daten:

Wenn Mallorca ein unabhängiger Staat wäre, hätte er in den vergangenen 40 Jahren ein Bevölkerungswachstum von 84 Prozent verzeichnet, das zweitstärkste weltweit, nur übertroffen von Indien mit 91 Prozent.
In den vergangenen 25 Jahren ist, während die Zahl der Touristen um mehr als 30 Prozent gestiegen ist, das Pro-Kopf-Einkommen auf den Balearen im europäischen Ranking vom 48. auf den 148. Platz abgestiegen. (Mehr Tourismus erzeugt also nicht auch mehr Wohlstand, sondern hingegen Armut).
Jedes Jahr kommen auf einen Inselbewohner 15 Touristen (das bedeutet, dass der menschliche Druck auf unser Gebiet sich um das 15-fache erhöht).
Dies ist das dritte Jahr in Folge, in dem auf Mallorca absolute Besucherrekorde gebrochen werden. 2024 verzeichnete der Flughafen von Palma mehr als 33 Millionen Passagiere, 7 Prozent mehr als 2023. Für 2025 wird ein Anstieg um 6 Prozent erwartet. Auch der Kreuzfahrttourismus im Hafen von Palma wird voraussichtlich auf 1,8 Millionen Passagiere steigen.
Es ist empörend, dass unsere Politiker den Begriff "Nachhaltigkeit" verwenden, wenn sie vom Tourismus sprechen, denn nichts könnte von der Wahrheit entfernter sein.

Wenn wir im Wörterbuch den Begriff "nachhaltig" nachschlagen, angewandt auf Ökologie oder auf Wirtschaft, wird er definiert als etwas, das über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden kann, ohne die Ressourcen zu erschöpfen oder schwere Umweltschäden zu verursachen. "Nachhaltigkeit" bedeutet, die Bedürfnisse der Gegenwart zu sichern, ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu gefährden. Also eine Entwicklung, die mit dem Umweltschutz vereinbar ist, und eine durch menschliches Handeln verursachte Umweltzerstörung vermeidet.

Nun, das ist genau das Gegenteil von dem, was derzeit auf unserer Insel passiert.

Die Politiker verkünden, sie wollen eine Entzerrung der saisonalen Abhängigkeit des Tourismus im Jahresverlauf. Das würde bedeuten, den Touristenstrom in der Hochsaison zu reduzieren und ihn über das Jahr zu verteilen. Doch was die Politiker in Wirklichkeit tun, ist genau das Gegenteil: die Auslastung in der Hochsaison wird zu 100 Prozent beibehalten und Mallorca wird auch in den übrigen Zeiträumen des Jahres mit Touristen gefüllt.

Mallorca ist nicht das Paradies, als das es Euch verkauft wird. Die einheimische Bevölkerung ist aufgebracht und wir sind nicht mehr gastfreundlich, denn man zerstört das Land, das wir lieben, und viele Einwohner müssen auswandern, weil die Insel für sie unbewohnbar geworden ist.

Versetzt Euch einmal in unsere Lage!

Es ist Zeit, etwas zu unternehmen. Unsere Regierenden hören uns nicht an, also ist es an der Zeit, euch zu bitten, NICHT ZU KOMMEN. Wir brauchen keine weiteren Touristen; die Wahrheit ist, Ihr seid der Ursprung unseres Problems.

Wir haben jene stets gut behandelt, die unsere Insel mit dem Respekt besucht haben, den diese verdient. Jetzt bleibt uns aber nichts anderes übrig, als Euch um Euer Verständnis zu bitten und es nachvollziehen könnt, dass wir Mallorquiner sagen: ES REICHT – BLEIBT ZU HAUSE!

Die unterzeichnenden Vereinigungen:

- SOS RESIDENTS
- MENYS TURISME MÉS VIDA
- GOB
- GADMA. GRUP AMICS DE LA TERRA DE MALLORCA
- ALTERNATIVA PER POLLENÇA
- BRUNZIT
- AMICS DE LA VALL DE COANEGRA

Zum Thema
Meistgelesen