Es gibt Werkanfänge, bei denen schon in den ersten Takten klar wird, dass sie das Tor zu etwas Großem, zumindest Bemerkenswertem sind. Wenn sie besonders markant und einprägsam sind, laufen sie Gefahr, dass sie sich verselbstständigen, im Film oder als Erkennungsmelodie im Radio landen. Letzteres passierte den ersten fünf Tönen des Hauptthemas aus dem „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss, mit denen seit Jahr und Tag das ARD-Nachtkonzert beginnt. Und den Anfang des „Zarathustra“ – ebenfalls von Strauss – kennen viele nur aus dem Film „Weltraumodyssee“. Ähnlich ist es mit dem Eröffnungschor „O Fortuna“ aus Orffs „Carmina Burana“. Die Internet Movie Database listet über 90(!) Film- und Fernsehproduktionen auf, in denen dieser Chor im Soundtrack verwendet wird. Gestern Abend nun gab’s das Werk in voller Länge im Auditorium. Pablo Mielgo dirigierte.
Aufgeboten hatte man dazu eine Top-Besetzung: neben den Sinfonikern, dem Chor der Balearenuniversität (Einstudierung J.Company) und dem Kinderchor, den berühmten Blauets vom Kloster Lluch (Betreuung R.Terradas Calafell) führten eine gute Stunde lang die Sopranistin Amparo Navarro, der Tenor Joaquin Asiain und der Bariton Günter Haumer – alle drei „Carmina-erprobt – vor, dass das Mittelalter nicht diese dunkle Epoche war, als die es oft beschrieben wird. Die Texte aus dem 12.Jahrhundert stellen auf Latein und Mittelhochdeutsch ein buntes Kaleidoskop mittelalterlichen Lebensgefühls dar, das ebenso von Liebes- Lust und Leid als auch von tiefer Religiosität geprägt war. „Primo vere“ (des Frühlings heiteres Gesicht), Tanz und allerlei Techtel-Mechtel der „Gesellen und Megede“ Uf dem anger (auf dem Feld), Fress- und Sauflieder In taberna (in der Schenke also) sind aus dem prallen Leben gegriffen.
Dieses Leben glaubwürdig darzustellen verlangt von den Ausführenden eine regelrechte Gratwanderung zwischen Schönklang und Charakterdarstellung. Gerät der Gesang zu belkantisch, wirkt die Aufführung schnell steril. Andererseits soll natürlich auch die Schönheit der menschlichen Stimme nicht zu kurz kommen. Dieser Balance-Akt gelang gestern Abend hervorragend, nicht nur bei den drei Solisten. Auch der Uni-Chor und die boys and girls aus dem Kloster „lebten“ ihre Rollen, ohne dabei ihre sängerische „gute Kinderstube“ zu vergessen. Das groß besetzte Orchester (siehe meine Werkeinführung) schaffte mühelos den Spagat zwischen auftrumpfend-bombastisch und filigran.
Ein besonderes Kabinettstückchen war die Nummer 12 der Partitur: „Olim lacus colueram“ - „Einst war ich Zerd‘ des Sees“: ein Schwan auf dem Grillrost beklagt sein trauriges Schicksal geradezu herzergreifend. Joaquin Asiain, aus Stuttgart extra für diese drei Minuten eingeflogen, machte „eine kleine Oper“ aus dieser Nummer, auf die er spezialisiert ist. Bis 2021 hatte er, wie er im Interviewe mit der Mallorca Zeitung verriet, diese Schwanennummer 225(!) mal gesungen. „Dieses Jahr habe ich schon zwölf Schwäne hinter mir“ sagte er nicht ohne Stolz. Natürlich gibt es keine Aufnahme vom gestrigen Konzert, aber Sie können ihn auf YouTube sein Glanzstück zelebrieren sehen und vor allem hören. Klicken Sie hier. Auch gestern Abend meisterte der „Schwan am Bratspieß“ mit Bravour die drei hohen C, dreimal hohes D und neunmal hohes H, die diese Partie seiner Stimme abverlangt.
Das 42-seitige Programmheft (Katalan, Spanisch und Englisch) ist leider erst seit heute online auf der Webseite des OSIB abrufbar. Das ist ärgerlich, man möchte sich ja vor dem Konzert über Werk und Interpreten informieren. Stattdessen konnte man gestern Abend im Eingangsbereich einen QR-Code scannen, der zum Libretto führte. Auch das war wenig hilfreich, denn wer sitzt schon gern, auf sein Handy starrend, im Konzert!?!
Dem Erfolg des Abends – und vor allem der Begeisterung des Publikums – tat das alles aber keinen Abbruch. Orchester, Chöre und Solisten – und nicht zuletzt Pablo Mielgo – wurden mit standing ovations stürmisch gefeiert. – Das nächste Konzert findet erst am 1. Dezember statt. Bis dahin ist das Orchester anderweitig beschäftigt, unter anderem als Opernorchester im Teatre Principal in Monteverdis Orfeo. Am 1.12. gibt’s dann unter anderem Strawinskys „Feuervogel“ und die zweite Sinfonie von Brahms unter Giacomo Sagripanti im Trui Teatre, Tickets hier. Auch für das zweite Auditoriumskonzert am 8.Dezember mit Tschaikowskys b-moll-Klavierkonzert sowie den „Winterträumen“, seiner Sinfonie Nr.1, läuft bereits der Ticketverkauf.