Warum auch das Warten auf Etwas schon sehr heilsam sein kann
So gut ich darin bin, meinen Klienten in Therapie und Beratung und ebenso meinen Schülern, wenn ich noch ab und zu online unterrichte, mit unendlicher Geduld zur Seite zu stehen und auch kleinste Veränderungen anzuerkennen und wertzuschätzen, so schwerfällt es mir gleichzeitig in meinem Privatleben. Man könnte auch sagen: Geduld ist nicht mein zweiter Vorname. Ich bin doch ein recht entscheidungsfreudiger Mensch und möchte dann auch, dass das, was ich mir ausgedacht habe, sich umgehend realisiert. Und das nicht nur, wenn es um mich geht, nein, am liebsten hätte ich auch, dass alle Beteiligten in meinem Umfeld genauso schnell mitziehen oder ihre Pläne ändern. Manchmal ist das selbst für mich anstrengend und nicht besonders tugendhaft. Dabei kann das Warten und Sehnen, die Vorfreude doch auch wunderbar sein. Und dann gibt es ja auch noch Situationen, Entwicklungen und Dinge, die einfach Zeit brauchen, um zu wachsen, zu reifen, sich zu vollenden.
In meinem Lindauer Häuschen hatte ich einen wunderbaren Garten (siehe auch MM 51/2021), der mich gelehrt hat, geduldig zu sein. Die eindringlichste Erfahrung diesbezüglich hatte ich mit der Idee, Karotten anzubauen in einem entsprechenden Hochbeet. Karotten haben die Eigenschaft, nach oben nur ein zartes, fiedriges Grün zu zeigen, während unterirdisch gleichzeitig die Post abgeht. So eine feine, kleine Karotte braucht schon eine gewisse Zeit, um sich zur ausgewachsenen Möhre zu entwickeln. Wie lange genau wusste ich nicht, also stand ich jeden Tag vor dem Beet und schaute fasziniert dabei zu, wie das helle Grünzeug immer weiter wuchs und sich ausbreitete. So ein Hochbeet hat ja die fantastische Eigenschaft, dass es durch die Schichtung mit Erde, Ästen und Bioabfall wie ein Beet mit eingebautem Komposthaufen funktioniert. Also quasi ein Beet mit Fußbodenheizung. Dadurch soll dann das Gemüse im Turboverfahren wachsen und gedeihen. Meine Ungeduld hätte kaum größer sein können. Ich träumte schon von Karottenkuchen und Möhreneintopf, stellte mir vor, was ich mit der reichen Ausbeute von immerhin sechs Pflanzen alles zubereiten können würde. Nach relativ kurzer Zeit buddelte ich also die erste Möhre aus, um dann entsetzt festzustellen, dass sie kaum ein Möhrchen war, während das Grünzeug oben ordentlich gewuchert hatte. Tja, da man eine ausgegrabene Möhre nicht wieder eingraben kann, musste ich sie an Ort und Stelle verspeisen. Mit einem Haps war sie weg: Lecker, süß, aber eigentlich viel zu mickrig, um schon geerntet zu werden. Glauben Sie bitte nicht, dass ich in der Lage wäre, diese Erfahrung auf andere Situationen zu übertragen. Der Lernerfolg war zwar da, wurde aber gleich wieder von einer neuen Welle der Ungeduld überrollt.
Ich habe dann irgendwann aufgehört, Gemüse anzupflanzen, das unterirdisch wächst. Bei Tomaten, Salat oder Kürbis sieht man sofort, wie weit die Pflanzen gediehen sind und kann im schlimmsten Fall (zumindest bei Tomaten) einfach mal probieren, um den Reifegrad zu testen.
Nun ist es im Leben nicht immer ganz so leicht und viele Entwicklungen sind für unser Auge nicht sichtbar. Manches ist nicht einmal zu erahnen und braucht einfach seine Zeit. Es gibt einige gute Möglichkeiten, seine Ungeduld zu zügeln oder gar gelassener zu werden: Dauert Ihnen mal wieder etwas zu lange und es soll schneller gehen? Wenn Sie keinen Einfluss darauf haben, sollten Sie sich gezielt ablenken. Richten Sie Ihre Konzentration auf etwas anderes und versuchen Sie, nicht an den Auslöser Ihrer Ungeduld zu denken. So reduzieren Sie den selbst auferlegten Druck und warten ab.
Manche Dinge dauern nun mal länger oder werden erst später Realität – ob es Ihnen gefällt oder nicht. Wenn Sie diese Wahrheit verinnerlichen, wird Ihre Geduld wachsen. Dabei kann Ihnen ein einfaches Mantra helfen, das Sie sich immer wieder vorsagen, wenn der Geduldsfaden fast reißt: Gut Ding will Weile haben. Wer alles sofort, jetzt und augenblicklich will (wie ich zum Beispiel), hat unrealistische Erwartungen. Das kann nicht funktionieren. Setzen Sie von Anfang an einen realistischen zeitlichen Rahmen. Dann entwickeln Sie ganz automatisch mehr Geduld. Nehmen Sie sich lieber mehr Zeit, als zu wenig. Gelangweiltes Rumsitzen und unproduktives Nichtstun steigert die Ungeduld. Nutzen Sie die Zeit stattdessen produktiv. Beantworten Sie E-Mails, lesen Sie Fachzeitschriften, hören Sie einen Podcast, um nur ein paar Beispiele zu nennen. So ist die Zeit nicht verschwendet und Sie sind geduldiger.
Mal ehrlich: Wie oft hat Sie Ungeduld schon weitergebracht? Sie kommen beim Arzt nicht schneller dran, der Stau löst sich nicht plötzlich auf, eine Antwort kommt nicht früher, das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Die einzige Konsequenz ist Ihr persönlicher Frust. Und last but not least: Am Ende der Geduld steht (meistens) eine Belohnung. Ein Erfolg, ein Ziel, eine Errungenschaft. Halten Sie sich diese immer vor Augen. Stellen Sie sich die Freude vor und denken Sie daran, warum es sich lohnt. Das macht es leichter, geduldig zu sein.
Enden möchte ich heute mit den Worten von Rainer Maria Rilke, der bereits 1903 über die Geduld das Folgende sagte: "Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären ... Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit ... Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen und versuchen, die Fragen selber liebzuhaben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages, in die Antworten hinein." In diesem Sinne.