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Herbstschmerz

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Wie es ist, eine Jahreszeit zu verlieren. Und warum die Erkenntnis darüber wichtig ist

Ich schreibe oft darüber, wie toll es ist, auf Mallorca zu leben. Mit den vielen Sonnenstunden, mit dem blauen Himmel, mit dem Meer, das an manchen Tagen aussieht, als hätte jemand einen großen Eimer goldene Farbe hineingeschüttet – und, und, und. Ja, das Leben auf dieser Insel ist schön. Es ist leicht, hell, warm. Man kann fast jeden Tag draußen frühstücken, barfuß über Fliesen laufen und sich sicher sein, dass die Sonne einen irgendwann doch findet – selbst, wenn man sich am liebsten mal vor ihr verstecken möchte.

Und trotzdem – manchmal überkommt mich dieser seltsame Schmerz. Eine Sehnsucht nach etwas, das ich nicht greifen kann, weil es nicht mehr da ist. Vielleicht ist es der Herbstschmerz. Der Verlust einer Jahreszeit.

In Deutschland war der Herbst immer meine liebste Zeit. Diese leise Melancholie, die in der Luft hängt, wenn das Jahr sich langsam verabschiedet. Das Rascheln der Blätter unter den Schuhen, der Geruch von nasser Erde im Wald, wenn der Nebel zwischen den Bäumen hängt. Die Farben, dieses satte Gold, das sich mit Rostrot und Dunkelgrün mischt, als würde die Natur selbst ein letztes großes Gemälde malen, bevor sie zur Ruhe kommt. Es ist die Jahreszeit, in der das Verblühen schöner ist als das Blühen selbst.

Hier auf Mallorca gibt es keinen richtigen Herbst. Es gibt warme Tage, an denen die Sonne stärker ist, als sie sein dürfte, und Nächte, in denen man sich fragt, ob man die Decke wirklich braucht. Die Bäume bleiben grün, die Luft riecht nach Salz statt nach Erde, und das Rascheln der Blätter ersetzt der Wind, der durch die Palmen zieht. Es ist wunderschön, ja. Aber es ist auch … anders.

Man verliert mit dem Herbst mehr als nur eine Jahreszeit. Man verliert einen inneren Rhythmus. Diese sanfte Vorbereitung auf das Wenigerwerden von Licht, Wärme und Bewegung. Auf das Zuhausebleiben, das Zusammenrücken, das Teetrinken, das Kerzenanzünden. In Deutschland war der Herbst wie ein freundlicher Hinweis: „Mach’s dir gemütlich, das Jahr wird müde.« Hier auf Mallorca ruft das Wetter dagegen: „Komm raus, genieß die Sonne, beweg dich, sei aktiv!» – und manchmal, wenn man sich einfach nur unter eine Decke kuscheln möchte, fühlt man sich fast ein bisschen schuldig.

Psychologisch betrachtet fehlt etwas, das in unseren Breitengraden tief in uns eingebrannt ist: die zyklische Erfahrung von Wandlung. Der Herbst steht für Loslassen, für den natürlichen Rückzug. Für das Einverständnis, dass alles seine Zeit hat und irgendwann endet. Wenn man in einem nahezu ewigen Sommer lebt, fehlt diese kollektive Pause. Das Einatmen vor dem Winter. Die Einladung, still zu werden.

Vielleicht ist das der Grund, warum viele Auswanderer auf Mallorca irgendwann eine leise Sehnsucht spüren, die sie nicht benennen können. Es ist nicht nur Heimweh. Es ist ein Verlust an Übergängen. Das Leben wird zu einem einzigen langen Sonnentag – und der Mensch, der doch aus Rhythmus und Wandel besteht, sucht instinktiv nach Schatten, nach Kühle, nach diesem sanften Grau zwischen den Farben.

Der Herbst findet nicht nur in der Natur statt, sondern auch in der Seele. Er ist die Jahreszeit, in der wir Bilanz ziehen, in der wir spüren, was geblieben ist, und was wir loslassen müssen. Ohne ihn, so scheint es, geraten manche Dinge in uns aus dem Takt. Wir verlieren den Mut zum Rückzug, weil die äußere Welt uns permanent zum Draußen-Sein verführt.

Ich vermisse das Geräusch von Regen auf Fensterscheiben. Das warme Licht von Straßenlaternen, das sich auf nassem Asphalt spiegelt. Das erste Paar Wollsocken im Jahr. Ich vermisse die Vorfreude auf Weihnachten – diese Mischung aus Dunkelheit und Glanz, aus Rückzug und Erwartung. Vielleicht, weil die Sonne selbst nie richtig ausbleibt. Die helle, strahlende Weihnachtsbeleuchtung in Palma scheint mir manchmal fast in Konkurrenz zu stehen zum Strahlen der Sonne.

Natürlich gewöhnt man sich daran. Mit der Zeit entstehen neue Rituale. Ein Spaziergang am Strand, wenn der Wind auffrischt. Das erste Feuer im Kamin, wenn die Nächte dann doch etwas kühler werden. Man beginnt, die Insel anders zu lesen. Hier sind die Jahreszeiten leise – sie flüstern, statt zu rufen. Der Winter schleicht sich heran, verborgen in frischen Morgenstunden oder in der plötzlichen Lust auf eine heiße Suppe. Der Frühling kommt, bevor man ihn wirklich erwartet. Und der Herbst – er bleibt irgendwo zwischen Spätsommer und mildem Novemberlicht hängen, wie ein Gast, der nicht recht weiß, ob er bleiben oder gehen soll.

Für manche mag das paradiesisch klingen. Und ja, es ist ein Privileg, das Licht nicht zu verlieren. Aber die Psyche liebt Zyklen. Sie braucht Anfang und Ende, Werden und Vergehen, um sich zu orientieren. Der ständige Sonnenschein kann wie ein Dauerlächeln wirken – schön anzusehen, aber irgendwann anstrengend. Selbst Freude braucht Pausen.

Ich glaube, wir unterschätzen, wie sehr uns der Wechsel der Jahreszeiten innerlich strukturiert. Wenn draußen alles stiller wird, werden auch wir stiller. Wenn das Licht sich verändert, verändert sich unser Blick. Der Herbst hat uns beigebracht, dass Loslassen nicht Verlust bedeutet, sondern Vorbereitung. Wer keinen Herbst mehr erlebt, verliert auch ein Stück dieser inneren Bewegung – die Bereitschaft, das Alte ziehen zu lassen, um dem Neuen Raum zu geben.

Vielleicht spüren wir genau deshalb auf Mallorca manchmal eine unbestimmte Unruhe, obwohl doch alles perfekt scheint. Die Seele weiß, dass es Zeit wäre, sich zu sammeln – aber der Körper sitzt noch im Café am Meer. Die Diskrepanz zwischen innerem Takt und äußerem Klima schafft Spannungen, die man nur versteht, wenn man sie erlebt.

Vielleicht liegt die Kunst des Lebens im Süden darin, sich den eigenen Herbst zu erschaffen. Ihn nach innen zu verlegen. Den Rückzug bewusst zu wählen, wenn draußen die Sonne lacht. Eine Kerze anzuzünden, auch wenn die Welt hell genug ist. Das Rascheln der Blätter im Kopf zu hören, auch wenn Palmen rauschen.

Ich schreibe darüber, wie toll es ist, auf Mallorca zu leben, mit den vielen Sonnenstunden, mit dem blauen Himmel, mit dem Meer, das glitzert – und, und, und. Und manchmal, an einem dieser makellos schönen Tage, wünsche ich mir einfach nur graue Wolken und Nebelschwaden. In diesem Sinne.

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