Als es neulich bei Eloina Rapp Lantarón klingelte, stand hoher Besuch vor der Tür. Der russische Vizekonsul war eigens aus Barcelona angereist, um der 90-Jährigen eine Ehrenmedaille zu überreichen. Die Spanierin ist eine seltene Zeitzeugin: Sie ist eine der wenigen Überlebenden der Blockade von Leningrad, die heute noch von der menschlichen Katastrophe aus eigener Erfahrung berichten können. Hitlers Wehrmacht hatte die Stadt von 1941 bis 1944 eingekesselt. Mehr als eine Million Zivilisten (von rund drei Millionen Einwohnern) verhungerten in der belagerten Metropole. Zum Jahrestag der Befreiung, der sich am 27. Januar zum 70. Mal jährte, erhielten alle Zeitzeugen, die heute noch am Leben sind, eine vergoldete Auszeichnung.
Wie aber kam Eloina Rapp Lantarón, eine auf Mallorca lebende Geschichtslehrerin im Ruhestand, zu dieser Ehrung? Die 90-Jährige blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück, dessen Wendungen Stoff für Romane und Filme bieten. Die 1924 im nordspanischen Kantabrien geborene Tochter eines Glasbläsers war eines der rund 2900 spanischen Kinder, die während der Spanischen Bürgerkrieges zu ihrer Sicherheit nach Russland gebracht wurden.
"Wir lebten in Reinosa. Als 1936 der Krieg ausbrach, meldete sich mein Vater, ein Republikaner, zur Front. Ich sah von unserem Haus aus, wie der Flugplatz von Reinosa bombardiert wurde", erinnert sich Eloina Rapp. Der deutsch klingende Nachname stammt von ihrem Vorfahr aus dem Elsass, General Jean Rapp, der einst unter Napoleon gedient hatte.
Mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Néstor wird die Zwölfjährige zunächst in einem Internat bei Gijón vor den Auswirkungen der Kämpfe und den näher rückenden Franco-Truppen bewahrt, dann werden die Kinder auf einem Handelsschiff, das eine humanitäre Hilfsorganisation charterte, unter Todesgefahr über den Atlantik nach Frankreich gebracht. Während andere Kinderkontingente in Frankreich, England, Belgien oder Dänemark betreut werden, gelangen Eloina und Néstor 1937 nach Russland.
Die Ankunft in Leningrad, der einstigen Zarenstadt und Ostsee-Metropole Sankt Petersburg, steht ihr noch heute vor Augen: Empfangen wurden die spanischen Kinder von der Jugendorganisation der kommunistischen Partei der Sowjet-Union. "Sie standen in langen Reihen, mit ihren weißen Hemden und roten Halstüchern, und empfingen uns überschwänglich mit Wärme und Herzlichkeit", schwärmt Rapp. Die Kinder werden von Betreuerinnen in einer öffentlichen Badeanstalt gewaschen und neu eingekleidet, es gibt reichlich zu essen nach der anstrengenden Reise, die Eloina weitgehend seekrank überstehen musste.
Die folgenden Jahre sind für sie vor allem glücklich. Sie lebt im Kinderhaus Nummer 8, hat spanische und russische Lehrerinnen, lernt viel. Einzig von ihren Eltern hat sie keine Nachricht.
Während die Kinder zu Jugendlichen heranwachsen, endet der Spanische Bürgerkrieg, beginnt 1939 der deutsche Überfall auf Polen und im Sommer 1941 der Einmarsch der Wehrmacht in Russland.
Als die ersten Bomben fallen, befindet sich Eloina Rapp, ein Teenager von 17 Jahren, mit ihrer Gruppe in einem Ferienheim an der Ostsee. Rasch wird das Haus evakuiert, die Spanier nach Leningrad zurückgebracht. Dort erlebt Eloina Rapp die Blockade der Stadt, die den Namen des Gründers des Bolschewismus trägt und auch aus diesem Grund im Zentrum des Vernichtungskrieges Hitlers steht. Er will die Stadt aushungern, Stalin sie keinesfalls kapitulieren lassen.
Die Heranwachsende von damals verbringt die Nächte mit Wachdienst, um die Feuer der Brandbomben zwischen den Holzhäusern zu löschen. "Auf den Dächern hatten wir Eimer mit Wasser stehen, später, im Winter, Eimer mit Sand."
Die Kälte macht der jungen Frau weniger zu schaffen als gedacht. "Wir trugen gefütterte russischen Mäntel und Filzstiefel." Doch Eloina Rapp spürt den Hunger am eigenen Leib, zum Schluss gab es als Tagesration für sie nur noch 125 Gramm Brot, "gestreckt mit Holzmehl".. Während sie im Lazarett Verwundete pflegt, sieht sie die vielen Toten in den Straßen. Ein Bild hat sich ihr in die Seele gebrannt: Ein Junge, der seine erfrorene Mutter auf einem Schlitten zum Friedhof zieht. Die Mutter hatte ihm ihre Brotration überlassen, ohne sie wird auch er verhungern.
Eloina Rapp kann nicht sprechen, zu sehr muss sie mit den Tränen kämpfen. Wer ihr zuhört, dem nimmt sie das Versprechen ab, den Piskarjowskoje-Friedhof zu besuchen, sollte man je nach Sankt Petersburg kommen. Allein dort liegen 470.000 Opfer der Blockade begraben.
Die Sachbücher, die über die dantesken Lebensbedingungen während der Blockade geschrieben wurden, verblassen zu Papier, wenn man den Worten Rapps lauschen darf. Sie selbst und ihr Bruder haben Glück: Die Spanier werden im März 1942 über den auftauenden Ladogasee evakuiert. Es folgen nach dem Krieg Jahrzehnte in Moskau, wo sie an der Hochschule spanische Geschichte unterrichtet. "Alle Spanier hatten stets den Traum, eines Tages nach Spanien zurückzukehren." Für sie, mittlerweile von ihrem russischen Mann geschieden, ist es 1977 so weit: Franco ist tot, Spanien macht sich auf den Weg zur Demokratie. Bruder Néstor baut die kommunistische Gewerkschaft Comisiones Obreras mit auf. Eloina Rapp wird als Lehrerin zugelassen und nach Artà auf Mallorca versetzt.
Zieht die 90-Jährige eine Bilanz ihres Lebens, dann zeigt sie sich zufrieden und dankbar. "Ich habe viel Glück gehabt. Ich habe in diesem Leben so viel lernen dürfen. Und ich habe so viele Freunde, vor allem unter jungen Menschen."
ZUR PERSON:
Eloina Rapp Lantarón erblickte 1924 im nordspanischen Reinosa das Licht der Welt. Sie wurde als Kind 1937 nach Russland verschickt, verbrachte dort 40 Jahre. Erst nach Francos Tod kehrte sie nach Spanien zurück. Der Kontakt zu den Eltern fand in Briefen statt; ihr Vater starb noch vor dem Wiedersehen. Heute lebt Eloina Rapp in Can Picafort auf Mallorca.
(aus MM 19/2014)