Es ist eine ganz eigene Auswanderer-Geschichte auf Mallorca! Mit wackeligem Schritt und zwei Literflaschen Bier in den Händen verlässt Lothar B. den Eroski-Supermarkt in Son Verí. Marke? Aurum! Nichts anderes kommt ihm in die Tüte. Die Sonne hat seine Haut gegerbt, dunkle Linien durchziehen die sehnigen Unterarme. Unter einer ausgeblichenen Kappe blitzen zwei hellblaue Augen, wach und traurig zugleich. Sein Gesicht: zerfurcht vom Leben, von der Zeit. Seine Gestalt: schmal, fast zerbrechlich.
Lothar ist Deutscher. Seit über zwanzig Jahren lebt er in einer Höhle auf Mallorca , am Torrent de Ses Mosques, nahe Cala Blava. "Mehr als zwanzig Jahre schon", sagt er zu den Journalisten der spanischsprachigen MM-Schwesterzeitung Ultima Hora – und wird es im Laufe des Gesprächs immer wieder sagen. Als müsste er sich selbst daran erinnern, dass es wahr ist.
Lothars Alltag beginnt vor dem Supermarkt
Sein Alltag beginnt stets vor dem Supermarkt, wo er jeden Morgen auf einem alten Stuhl sitzt und um ein paar Münzen bittet. Es ist Donnerstag, 10. April. Es ist früher Nachmittag, und eine der beiden Bierflaschen ist bereits leer. Die andere hält er wie eine Art Stab, als gehöre sie zu seiner Erscheinung.
Lothar spricht nur gebrochen Spanisch, eher Bruchstücke als Sätze. Die paar Münzen, die in einem Becher mit getrockneten Kaffeeresten klirren, wandern in seine Tasche. Er nimmt seinen rosa Sonnenschirm, zieht den schwarzen Einkaufswagen hinter sich her und macht sich auf den Heimweg – zurück in die Höhle, die für ihn in all den Jahren längst zum Zuhause geworden ist.
Wenn er nach seinem Alter gefragt wird, zählt er mit den Fingern nach. „Vierundsechzig“, sagt er schließlich. Auf dem rechten Unterarm, eingerahmt von alten Tattoos, steht ein Satz auf Türkisch, geschwungen gestochen: "Ich hoffe, du wirst wieder glücklich." Eine Botschaft an jemanden? Oder an sich selbst?
Lothar läuft langsam die Straße hinunter – mitten auf der Fahrbahn. Autos weichen ihm aus, Radfahrer umkurven ihn, während er ihnen ein paar unverständliche Worte auf Deutsch zuruft. Dann lacht er. "Ich habe ihnen gesagt, sie sollen einfach geradeaus gehen – bis zum Ende." Vor einer ziemlich gepflegten Urbanisation, wie es auf Mallorca Hunderte gibt, steht ein Meer aus Gänseblümchen. "Gefällt mir nicht", sagt er nur und bleibt kurz stehen. Ein schmerzhafter Rücken, ein Rülpser, dann geht es weiter.
Er lebt allein, ohne Frau, ohne Familie
Er lebt allein, sagt er. Ohne Frau, ohne Familie, unweit vom "Ballermann", jenem "Lieblingsstrand der Deutschen" an der Playa de Palma. "Ich will nichts mehr. Keine Frauen. Nur meine Katzen." Hilfe von außen lehnt Lothar seit Jahren ab. Soziale Dienste, Polizei – sie haben ihn in Ruhe gelassen. "Solange ich kein Feuer mache, sagen sie, ist alles in Ordnung." Abends schläft er in einem Zelt, in seiner Höhle im Bachbett. Wenn der Regen kommt, rauscht das Wasser vorbei. Wenn die Hitze brennt, spenden Felswände Schatten. Und wenn es Nacht wird, bleibt nur das Knistern der Einsamkeit – und das leise Atmen seiner Katzen.
"Wie hast du die Höhle gefunden?". "Allein", antwortet Lothar. Diesmal auf Englisch. "It’s my home." Sein Rückzugsort liegt versteckt in einem bewaldeten Streifen, nur ein paar Schritte entfernt von einem freistehende Häuschen mit Pool und gepflegtem Rasen. Ein gelbes Badetuch mit dem Logo einer Alarmanlagenfirma dient als Tür – flatternd zwischen den knorrigen Ästen zweier Feigenbäume. Hinter dieser improvisierten Barriere beginnt Lothars Welt.
Dort, in der Stille seiner Höhle, bewahrt er ein kleines Radiogerät auf – eine seiner wenigen Leidenschaften. Wenn er Musik hört, scheint er ganz bei sich zu sein. "Was hörst du am liebsten?"
"AC/DC!" ruft er und stimmt plötzlich, mit rauer Stimme und leuchtenden Augen, "It’s my life" von Bon Jovi an: "It’s my life, it’s now or never, I ain’t gonna live forever, I just want to live while I’m alive…"
"Beatles? Mag ich nicht!"
Die Beatles hingegen? "Mag ich nicht", sagt er knapp. Was ihm sonst gefällt? „Mein Leben in Einsamkeit.“ Drinnen ist es warm, stickig, überfüllt mit Unrat. Einst war seine Höhle ordentlich, erzählt er, fast mit Stolz. Doch irgendwann musste er für einen Monat ins Krankenhaus Son Espases – und als er zurückkam, war jemand anderes dagewesen. „Es war sauber“, murmelt er und schaut sich resigniert um: Flaschen, Müll, zerwühlte Kleidung, ein alter Spiegel, eine Gasflasche, eine kaputte Stuhllehne. Die Spuren eines Lebens, das sich nicht um Ordnung schert. Und doch sagt er: „Ich mag es, hier zu leben. Es sind über zwanzig Jahre.“
Lothar setzt sich an den Rand seiner Schlafstätte – ein Zelt mit Decken, halb verborgen im Schatten der Felsen – und dreht am Knopf seiner kleinen Radioantenne. Aus dem Lautsprecher erklingt Last Friday Night von Katy Perry, gesendet vom deutschen Inselradio. "Ich bin Lothar aus Deutschland. Ich bin vor über 20 Jahren nach Mallorca gekommen", erzählt er plötzlich. Dann wird seine Stimme leiser. Seine Familie, sagt er, sei bei einem Busunglück in den Niederlanden ums Leben gekommen. "Alle tot." Er zählt die Namen auf, den Ort, das Jahr – und wechselt das Thema, als wäre die Erinnerung zu schwer.
"Was ist schon Arbeit?"
Auf einem alten Möbelstück kleben zwei Fotos: Brigitte und Claudia. "Freundinnen, keine Familie", betont er. Früher arbeitete er als Maler in Bahía Grande, erinnert er sich. "Aber sie zahlten schlecht. Ich hörte auf. Was ist schon Arbeit?" fragt er in die Luft, ohne auf eine Antwort zu warten.
Unter seinem T-Shirt verbirgt sich eine Narbe, gut 20 Zentimeter lang, quer über den Bauch. "Man hat mich in Bahía Grande niedergestochen", sagt er knapp. Mehr will er dazu nicht sagen. Stattdessen deutet er auf eine Wölbung am unteren Ende der Narbe. "Ein Tumor", erklärt er. Auch das – nur ein weiterer Umstand in einem Leben, das längst keine großen Pläne mehr macht.
Lothars Worte stolpern, wie er selbst manchmal auf dem Weg in den Tag. Und immer wieder sagt er denselben Satz: "Ich bin hier seit über 20 Jahren." Die Polizei von Llucmajor kennt ihn. "Er ist kein Problem", heißt es dort. "Wir haben ihn mehrmals an die Sozialdienste verwiesen, aber er lehnt jede Hilfe ab." Lothar winkt ab. "Ich lebe gern hier", sagt er – und damit ist alles gesagt. Ein Einzelgänger, ein Eigenbrötler, ein Inselbewohner im wahrsten Sinne – auf seine ganz eigene Weise verwurzelt. Zwischen Felsen, Bäumen, Katzen – und einem Radio, das manchmal Bon Jovi spielt.