Antonio Oliver trug bereits Schlafanzug, als er aus seiner Wohnung gezerrt wurde. Der Tod in Form von deutschen Soldaten kam abends gegen 22 Uhr; die Einwohner von Lüttich pflegten vor einem Jahrhundert die frühe Nachtruhe. Doch die Soldaten "im Rocke des Kaisers" trieben Antonio Oliver und 22 weitere Männer auf dem Platz vor der Universität zusammen und erschossen sie kurzerhand. Die Leichen lagen neben dem Denkmal des Geologen André Dumont. Die Statue des Naturwissenschaftlers steht noch heute auf der Place Cockerill.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges jährt sich zum 100. Mal auch jenes Blutbad von Lüttich, bei dem fünf Mallorquiner von den deutschen Besatzungstruppen in Belgien hingerichtet wurden. Angesichts der vielen Millionen Toten, die der Weltenbrand von 1914 bis 1918 fordern sollte, mag dieses Ereignis allenfalls eine Fußnote der Geschichte scheinen. Auf Mallorca löste die Tragödie jedoch weithin Betroffenheit aus und nahm nicht wenige Menschen gegen das militärische Vorgehen der Deutschen ein. Der diffuse Krieg der Mittelmächte und der Alliierten in der Ferne zeigte mit einem Mal unheilvolle Nähe.
Seitenweise berichtete die Inselzeitung "Ultima Hora" in jenen Monaten über das tragische Schicksal der fünf Getöteten und ihren Angehörigen in Sóller, Esporles, Montuïri. Kein Geringerer als der spanische Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez, der neben seiner Berufung auch Journalist war, ging den Ereignissen von Lüttich nach, um sie bereits 1915 als Kriegsverbrechen zu brandmarken. In seinen Schriften hat er letztlich auch der Familie Oliver und ihren Mitarbeitern ein Denkmal gesetzt.
Wie viele seiner Landsleute hatte Antonio Oliver sein heimatliches Sóller verlassen, um in Europa mit dem Handel von Südfrüchten ein neues Leben zu beginnen. Mit seinem Bruder Jaime ließ er sich in Lüttich nieder, in ihrem Laden "Aux Jardins de Valence" verkauften sie Orangen, Zitronen, Artischocken, Aprikosen, Paprika und Weine aus Spanien.
Als im Sommer 1914 nach der langen Juli-Krise der Erste Weltkrieg ausbrach, wähnten sich die Spanier in Europa in vermeintlicher Sicherheit. Das Königreich hatte sich in dem Konflikt der wechselseitigen Kriegserklärungen und Mobilmachungen frühzeitig für neutral erklärt und seinen Staatsbürgern politische Bekundungen zugunsten des einen oder anderen Lagers sowie die Teilnahme an Waffengängen strikt untersagt.
Auch als der Krieg nach Lüttich kam, wollte Antonio Oliver sein Geschäft offenbar weder räumen noch aufgeben. Am 3. August waren die deutschen Truppen unter Bruch der belgischen Neutralität in das kleine Nachbarland eingefallen, um sich ein breites Aufmarschgebiet gegen den "Erzfeind" Frankreich zu sichern. Nach drei Tagen massiver Kämpfe kapitulierte das Zentrum von Lüttich am 7. August, in den wuchtigen Festungen leisteten belgische Soldaten vier weitere Tage Widerstand, bis auch sie die Waffen strecken mussten. Dann kehrte unter deutscher Besatzung trügerische Ruhe ein. Die Läden öffneten wieder, während das kaiserliche 39. Regiments die Kontrolle über die Stadt ausübte. Doch die deutschen Truppen befanden sich Augenzeugenberichten zufolge in einem permanenten Siegesrausch dank requirierter Alkoholbestände.
Am Abend des 20. August kommt es zur Eskalation: Aus einem Haus am Universitätsplatz wird ein Schuss auf deutsche Soldaten abgefeuert - angeblich von russischen Studenten. Sofort beschießen die Deutschen alle Wohnungen der Häuserzeile und zerren dann die Einwohner heraus. Die Wohnung der Russen befindet sich im selben Haus, in dem Antonio Oliver seinen Laden und seine Privatwohnung hat. Er, sein Bruder und die drei Angestellten, Jaime Llabrés, Juan Mora und José Nieli, werden von Frauen und Kindern getrennt und in das Universitätsgebäude gebracht.
Es nützt den Spaniern nichts, auf ihre Staatsangehörigkeit zu verweisen. Wie Tatzeugen später berichten werden, nimmt die wütende Soldateska davon keine Notiz. In kleinen Gruppen werden die Festgenommenen, insgesamt 23 Männer, herausgeführt und mit Schüssen getötet.
Am Folgetag ist es Sache der belgischen Lokalbehörden, die unter deutscher Herrschaft fortbestehen, die Toten in eine Leichenhalle zu schaffen. Zur Identifizierung lässt das Rathaus die Toten fotografieren. Auf diese Weise entsteht die Aufnahme, die Antonio Oliver mit einem Loch im Schädel zeigt. Der Händler wird später von zwei Angestellten, die wie durch ein Wunder dem Gemetzel entronnen sind, identifiziert.
Die These von den russischen Studenten galt schon damals als unwahrscheinlich. Sie wohnten gar nicht mehr in dem Haus. Als Auslöser für den Übergriff auf die Zivilisten wird vielmehr ein Streit unter betrunkenen Besatzungssoldaten angenommen. Sie sollen dabei ihren Offizier erschossen haben. Um die Bluttat zu tarnen, brachten sie daraufhin die benachbarten Anwohner um.
(aus MM 16/2014)