Wie Normalsein die Selbstoptimierung toppt, schildert die Managementberaterin Eva Bilhuber in ihrem Buch "Bemerkenswert normal". Am 9. Juni präsentierte sie ihren Anti-Ratgeber bei Livingdreams in Santa Maria. Im MM-Interview erklärt sie, warum die Jagt nach dem Optimalen nicht immer das Beste ist und worin die Kunst besteht, ein normales Leben zu führen.
Mallorca Magazin: Frau Bilhuber, sind wir noch normal?
Eva Bilhuber: Das kommt darauf an, welche Normalität wir meinen. Wenn wir jene meinen, die den heutigen Mainstream beschreibt, wie zum Beispiel in Jeans in die Oper zu gehen, dann würden wir uns sicher als mehrheitlich normal bezeichnen. Betrachten wir es aber beispielsweise aus der Brille der 50er Jahre, als es normal war, im Abendkleid in die Oper zu gehen, kommen wir vermutlich zu einem anderen Schluss. Somit ist das, was wir als normal empfinden, immer zeitbezogen und zudem auch sehr subjektiv.
MM: Sind Sie noch normal - oder sind Sie es wieder?
Bilhuber: Da müssen Sie wohl am besten meinen Mann fragen (lacht). Normal ist ja nichts, was wir sind, sondern eher eine Beurteilung durch andere. Mir täte aber mehr von der Haltung und dem Mut der Protagonisten in meinem Buch, die ich als "bemerkenswert normal" bezeichne, sicher gut. Immerhin ist über das Schreiben des Buches aber meine Sorge, von anderen als normal beurteilt zu werden, tatsächlich geringer geworden.
MM: Warum ist Normalsein in unserer Gesellschaft so verpönt?
Bilhuber: Ich glaube, es hat damit zu tun, dass Aufmerksamkeit die Erfolgswährung in unserer stark reizüberfluteten Gesellschaft ist. Und die erhalte ich natürlich am ehesten mit allem, was aus der Norm ausbricht. Wer nicht außergewöhnlich ist, droht in der Masse unterzugehen und muss um seine Stellung in der Gesellschaft bangen, ständig in Angst, keinen Job oder keinen Lebenspartner mehr abzubekommen. Arbeits- und der Heiratsmarkt sind schließlich die wichtigsten Orientierungspunkte für unsere individuelle Lebensgestaltung.
MM: Als großen Antagonisten stellen Sie dem Normalsein den Drang zur Selbstoptimierung gegenüber. Worin äußert er sich?
Bilhuber: Er äußert sich darin, dass wir unser Privatleben zunehmend nur noch nach ökonomischen Kriterien gestalten. Im Supermarkt schauen wir automatisch, an welcher Kasse die kürzeste Schlange ist, im Internet suchen wir nach dem preisgünstigsten Angebot, mit Fitnesstrackern gestalten wir auch unsere Freizeit leistungsorientiert. Wir versuchen also dauernd, unser Leben zu optimieren.
MM: Wie wirkt sich das aus?
Bilhuber: Wir leben in ständiger Angst, einerseits die beste Option zu verpassen und andererseits selbst nicht die beste Option für andere zu sein. Nimmt man die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation ernst, beginnt uns das aufs Gemüt zu schlagen. Paradoxerweise fallen bei dieser permanenten Optimierung genau jene Werte durchs Raster, die unser Leben auch menschlich lebenswert machen: Spontanität, Unvollkommenheit, Kreativität, Solidarität, Mitgefühl.
MM: Welche Rolle spielen dabei die Medien und die sozialen Netzwerke?
Bilhuber: Sie potenzieren diese Entwicklung. Mithilfe der Medien haben wir uns den Wettbewerb bis ins Wohnzimmer geholt, global und 24 Stunden am Tag. Dadurch werden wir dauernd mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert. Wir finden immer jemanden, der noch erfolgreicher, noch attraktiver ist oder noch mehr Likes hat. Das muss noch nicht einmal so sein, sondern kann nur so scheinen. Doch dieser permanente soziale Vergleich schürt eine latente Unzufriedenheit, die uns ständig zu gefühlten Verlierern macht.
MM: Drehen auch politische und wirtschaftliche Entwicklungen an der gesellschaftlichen und individuellen Optimierungsschraube?
Bilhuber: Die Tatsache, dass wir uns bei der Beurteilung von Volkswirtschaften mehrheitlich allein an Wachstumskennzahlen orientieren, ist sicherlich mit für die Optimierungsspirale verantwortlich. Deshalb gibt es ja bereits Bemühungen um ausbalancierte Kennzahlen, die nicht nur das Wachstum, sondern zum Beispiel auch dessen Kosten einbeziehen. Ich frage mich allerdings auch, wo wir stünden, wenn nicht nur die materielle Wohlstandsmehrung als Staatsaufgabe betrachtet würde, sondern auch das Wohlergehen, wie es zum Beispiel das Ansinnen mit dem Bruttonationalglück in Bhutan ist.
MM: Sind wir zwangsläufig Optimierungsopfer?
Bilhuber: Natürlich stecken wir in gewissen Optimierungszwängen. Wir müssen unser Kind pünktlich aus der Kita abholen, einkaufen und zur Arbeit gehen. Aber müssen wir dauernd den Kindergeburtstag vom Vorjahr toppen? Müssen wir sogar den Urlaub effizient durchtakten? Ich optimiere selbst sehr gern, aber ich versuche vermehrt, es nicht ausschließlich zu tun. Und gerade im Freizeitbereich gibt es mehr Spielräume, als wir gemeinhin annehmen, wo wir auch mal mutig ökonomische Kriterien über Bord werfen könnten.
MM: Im Untertitel Ihres Buches ist von der "Kunst, ein normales Leben zu führen" die Rede. Worin besteht diese Kunst?
Bilhuber: Ich glaube, die Kunst besteht darin, eben nicht dauernd nach dem Prinzip der "besten" Option zu entscheiden. Da spielen Konzepte wie Balance und Maß rein. Ich habe für das Buch sechs Geschichten von sechs unterschiedlichen Menschen gefunden, die aus freien Stücken auf Optimierung um jeden Preis verzichtet und stattdessen Augenmaß behalten haben. Dadurch gewannen sie nicht nur Lebensqualität, sondern hatten auch Erfolg nach den üblichen gesellschaftlichen, materiellen Kriterien.
MM: Wie kann man diese Kunst (wieder) lernen?
Bilhuber: Das ist eine typische Frage unserer Optimiererseele: Wie kann ich mich so optimieren, damit ich mich nicht dauernd optimiere? Ich glaube, indem wir einfach bewusst Räume schaffen, die frei von Wettbewerb und Effizienz sind. Das geht am besten im Urlaub und in der Freizeit. Ich denke manchmal, dort, wo die Straßen so eng sind, dass wir verlangsamen, Rücksicht üben und uns gegenseitig Platz machen müssen, da sind gute Orte, um mal Pause vom eigenen Vorteilsstreben zu machen.
MM: In Ihrem Buch sprechen Sie von "bemerkenswert normal". Was meinen Sie damit?
Bilhuber: Naja, heute ist ja eigentlich die Selbstoptimierung normal. Mit "bemerkenswert normal" meine ich aber genau jene Werte, die mit dem ökonomischen Gestaltungsprinzip der Selbstoptimierung von unserer Prioritätenliste gefallen sind, uns aber menschlich wie kulturell erfüllen. Das sind Dinge wie Zeit aufbringen für Beziehungspflege, für Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, spontan etwas unternehmen, mal die Beine hochlegen und ausruhen - also im Prinzip all das, was wir unter der Maxime "Whats-in-for-me" (Was bringt es mir, d. R.) weglassen, weil es uns keinen direkten materiellen Nutzen stiftet.
MM: Passt der Inhalt Ihres Buches auch in den Alltag von Unternehmen oder gar internationalen Großunternehmen?
Bilhuber: Das Buch bezieht sich klar auf die individuelle Lebensgestaltung. Aber die Frage, ob wir Gefahr laufen, das ökonomische Optimierungsprinzip auch auf unternehmerischer oder sogar gesamtwirtschaftlicher Ebene zu überdrehen, ist sicherlich berechtigt und wird unter Stichworten wie "Nachhaltigkeit" und "New Captalism" in Wirtschaftskreisen auch schon gestellt. Mit der Netzwerkökonomie sehen wir ja bereits, dass sogenannte Plattform-Unternehmen die Nase vorn haben, die nicht mehr allein nach der Logik "Whats-in-for-me" funktionieren, sondern eher nach dem Prinzip "Whats-in-for-all-of-us".
MM: Die hohen Bonusauszahlungen an die VW-Vorstände haben Wellen der Empörung geschlagen. Sind die Vorstände in ihrer maßlosen Gier aus Sicht des bemerkenswerten Normalen arme Wichte?
Bilhuber: Möglich, aber eine "bemerkenswert normale" Haltung zeichnet sich vor allem dadurch aus, mehrere Perspektiven, Wahrheiten und auch Widersprüchlichkeiten gelten lassen zu können. Sie widersteht der Versuchung, andere allzu eilig zu beurteilen - auch im Wissen, dass wir in einer vernetzten Welt ja irgendwie alle immer auch Täter und Opfer gleichzeitig sind. Ich glaube, "bemerkenswert normal" beinhaltet eher, Verständnis für unterschiedliche Perspektiven zu schaffen und Brücken zu bauen, als Gräben zu schlagen oder sich moralisch zu erheben.
MM: Was hat Sie dazu bewogen, "Bemerkenswert normal" zu schreiben?
Bilhuber: Ein Schlüsselerlebnis zu Beginn meiner Selbstständigkeit. Auf einer wenig erfolgreichen und sehr ermüdenden Akquise-Tour stellte ich plötzlich fest, dass meine Gesprächspartner immer dann die Köpfe hoben, wenn ich sagte, ich sei eine völlig normale Managementberaterin. Das erweckte mehr Aufmerksamkeit und Vertrauen als der Versuch, mein Können in besonders strahlendem Glanz darzustellen. Das inspirierte mich, nach Beispielen zu suchen, wo Normalsein das gängige Selbstoptimierungsideal schlägt. Ich hoffe, das Buch vermag den Mut weiterzugeben, den es mir selbst gemacht hat: unsere Lebensgestaltung nicht ganz so alternativlos und unhinterfragt dem Optimierungsprimat unterzuordnen.
Die Fragen stellte Martin Breuninger
(aus MM 23/2016)