Sa Gerreria heißt das immer noch etwas verrufene Chinesenviertel in Palmas Altstadt eigentlich, benannt nach den vielen Töpferwerkstätten, die es dort gab. „Die Straßen wurden schon in islamischer Zeit angelegt”, erklärt Arturo Pomar, Autor, Karikaturist und Journalist im Ruhestand, der im Viertel aufgewachsen ist und es wie seine Westentasche kennt. Die Porta de Sant Antoni, durch die man Sa Gerreria betritt, war ein Tor in der Stadtmauer und wurde bereits 1233 urkundlich erwähnt, berichtet er.
„Später lebten hier vor allem einfache Leute“, erzählt Pomar. Die Menschen, die sich im 20. Jahrhundert in dem engen Gassengewirr niederließen, stammten vor allem vom spanischen Festland. Krieg und Hungersnot trieben sie nach Palma, in der Altstadt nahmen sie unbewohnte Häuser in Beschlag. „Es waren quasi die ersten Hausbesetzer“, sagt Pomar und grinst. Die Wohnungen waren winzig, mit engen, steilen Treppenhäusern, wer einen Balkon hatte, konnte sich in den heißen Sommern glücklich schätzen. Bis in die 70er Jahre gab es in vielen Gebäuden nicht einmal fließendes Wasser. „Die Bewohner mussten es aus dem Brunnen schöpfen“, erzählt der 82-Jährige. Einer davon steht bis heute noch als museales Relikt an der Plaça Llorenç Bisbal.
Mit kleinen Läden hielten sich die meisten hier über Wasser. „Bis in den 60er und 70er Jahren der ‚Qualitätstourismus’ der sechsten US-Flotte Einzug hielt“, beklagt Lokalhistoriker Gaspar Valero. Die amerikanischen Soldaten waren während des Kalten Krieges für die Sicherung des Mittelmeers zuständig. Ihre Landgänge führten – wie in vielen Hafenstädten der Welt – zu einem Boom von Bars und Bordellen. „Die Bezeichnung Barrio Chino für das neue Amüsierviertel hat nichts mit Chinesen zu tun. Sie wurde in Anlehnung an den Rotlichtbezirk Barrio Ravall aus Barcelona importiert“, erklärt Historiker Valero.
Pomar hat dem Geschehen in den Amüsiervierteln Palmas und im Rest Spaniens sogar ein ganzes Buch gewidmet. „La prostitución vista de cerca“ erschien Ende der Franco-Zeit und wurde – wie damals üblich – stark zensiert, 50 Seiten fielen weg. Doch die Gäste der zahllosen Bars und Cabarets in Palma ließen sich das Feiern nicht verbieten. In vielen davon warteten Prostituierte auf ihre Kunden, darunter auch illustre Persönlichkeiten. „Albert Camus wurde dabei gesehen, wie er sich in der Bar Bibabo verlustierte und sie dann mit einer Frau verließ”, berichtet Pomar. Prostitution war dabei nicht gleich Prostitution. „Die Frauen in den Bars waren meist besser zurechtgemacht als jene, die in den Hauseingängen Kunden nachpfiffen. Sie nahmen auch mehr Geld, damals etwa 100 bis 150 Peseten“, erzählt er.
Für das Ende der Dauerparty und den Absturz des Viertels sorgten wenig später Drogen und Kriminalität. „Dafür waren die Gitano-Clans verantwortlich“, meint Pomar. Sie gaben bald den Ton an in Sa Gerreria und vertrieben viele der alteingesessenen Bewohner. Auf den Straßen setzten sich Junkies nun in aller Öffentlichkeit ihren Schuss, Besucher trauten sich kaum noch in das Gassenlabyrinth. 1998 hatte Bürgermeister Joan Fageda schließlich genug von den Sodom-und-Gomorrha-artigen Zuständen und rief einen Wettbewerb zur Umgestaltung des Viertels aus. Die Stadt investierte 100 Millionen Euro in den Bau von rund 300 Wohnhäusern, zwei Gerichtsgebäuden, eines unterirdischen Parkhauses und 57 Geschäften. 2003 begannen die Abrissarbeiten, 14.000 Quadratmeter wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Anwohner umgesiedelt. „Allerdings wurden längst nicht alle wie versprochen auch entschädigt“, beklagt Pomar. 2008 war die Verwandlung des ehemaligen Sündenpfuhls dann mehr oder weniger beendet.
Heute bietet Sa Gerreria ein widersprüchliches Bild. Moderne Wohnanlagen für Betuchte, die den historischen Stil des Viertels imitieren, und luxuriöse Boutique-Hotels stehen direkt neben einsturzgefährdeten kleinen Wohnhäusern, wie sie früher typisch für die Gegend waren. Nur wenige der alten Bars, wie etwa das 1944 eröffnete Flexas, haben überlebt, dafür aber haben Cafés und kleine Restaurants für eine begüterte Klientel Einzug gehalten. Das Zusammenleben mit den neuen Anwohnern sei nicht immer leicht, schrieb „El Mundo“ vor wenigen Jahren. Viele der Alteingesessenen kritisierten, dass man die Ärmsten aus dem Viertel vertreiben wolle. Die Pläne zur Neugestaltung hätten zu wenig auf die Erhaltung des Viertels und seiner Bewohnerstruktur geachtet, hatte Kunsthistoriker Angel Francesc Gené i Ramis schon 2002 in einem Bericht der Denkmalschützer von Arca moniert.
Und ganz und gar konnte man Prostitution und Drogenkonsum trotz allem nicht den Garaus machen. Einige der jahrzehntealten Bordelle sind weiterhin aktiv. Die kirchliche Hilfsorganisation Casal Petit kümmert sich seit mehr als 30 Jahren um Prostituierte. 2014 nahm sie immerhin noch 277 Mädchen, meist aus Osteuropa und Lateinamerika, unter ihre Fittiche. Und auch wenn die Drogenbosse nach Son Banya umgezogen sind und man weniger Süchtige sieht, geht der Drogenhandel in kleinerem Ausmaß weiter.
Arturo Pomar trauert auch heute noch den wilden Zeiten in Sa Gerreria nach. „Bevor die Drogen kamen, war es eine tolle Zeit, im Viertel gab es viel mehr Leben und Atmosphäre als heute“, sagt er. Historiker Valero ist dagegen froh, dass sozialer und städtischer Niedergang ein Ende gefunden haben. „Ich bin den Investoren dankbar, darunter den vielen Deutschen, die sich für die Wiederbelebung des Barrio Chino eingesetzt haben“, erklärt er.
Wer einen Eindruck vom Leben im ehemaligen Rotlichtviertel gewinnen will, dem sei neben einem eigenen Rundgang auch der preisgekrönte Comic „Geschichten aus dem Viertel” von Gabi Beltrán und Bartomeu Seguí ans Herz gelegt. Darin erzählt Beltrán von seiner nicht immer einfachen Jugend in den 80er Jahren, mitten unter den Drogensüchtigen, Dieben und Prostituierten von Sa Gerreria.
(aus MM 32/2019)