Mallorca Magazin: Herr Professor Reina, letztendlich hat die Pandemie Mallorca ja weitgehend verschont. War das komplette Herunterfahren des öffentlichen Lebens wirklich nötig?
Prof. Jordi Reina: Das war genau das Richtige für die Balearen. Ohne Zweifel. Die Schließung von Häfen und Flughäfen hat dazu geführt, dass das Virus nicht frei zirkulieren konnte. Die Ausgangssperre war nötig. So ist es uns gelungen, die Ausbreitung der Pandemie zumindest zu verzögern. Deshalb ist das öffentliche Gesundheitswesen nicht zusammengebrochen wie anderswo.
MM: Wie nah am Kollaps war die Intensivstation von Son Espases?
Reina: Wir hatten das Glück – wenn man es so nennen kann –, dass wir gleich den zweiten Patienten in Spanien hatten. Das hat es uns ermöglicht, uns auf die Pandemie vorzubereiten. Schon damals wurde entschieden, weitere Bereiche des Krankenhauses für die Intensivpflege vorzubereiten. Als dann die große Lawine kam – in einer Woche hatten wir 600 Patienten –, waren wir gut vorbereitet. Unsere Intensivstation war zu keinem Zeitpunkt zu 100 Prozent ausgelastet.
MM:Dennoch lag die Zahl der Todesfälle zwischen dem 16. März und dem 10. Mai auf den Balearen um 14 Prozent über dem statistischen Durchschnittswert für diesen Zeitraum. Wie interpretieren Sie diese Daten?
Reina: Es hat in allen Regionen Spaniens eine Übersterblichkeit gegeben und da kein anderer Faktor in Frage kommt, muss man sie dem Coronavirus zuschreiben.
MM: Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Eigenschaften dieses Virus?
Reina: Es verbleibt ungewöhnlich lange im Rachenraum. Wir hatten Patienten, die bis zu sechs Wochen immer wieder positiv getestet wurden. Das Virus nistet sich dort geradezu ein und es ist schwierig, es vollkommen loszuwerden. Zum anderen hat uns die hohe Ansteckungsrate durch Personen überrascht, die selbst überhaupt keine Symptome entwickelt hatten. Dazu kommt, dass die Patienten, die auf die Intensivstation eingeliefert wurden, dort zum Teil sehr lange behandelt werden mussten. Bis zu vier Wochen! Das hat die Krankenhauslogistik ziemlich erschwert.
MM: Welche Erfahrungen haben Sie in der medikamentösen Behandlung der Patienten gemacht?
Reina: Das einzige wirkliche antivirale Medikament, das uns derzeit zur Verfügung steht, ist Remdesivir, das einen positiven Effekt zu haben scheint. Allerdings auch nur, wenn es innerhalb von 48 Stunden nach Auftauchen der ersten Symptome verabreicht wird. Wenn ich das Virus hätte, würde ich dieses Medikament nehmen. Abgesehen davon kann man nur versuchen, die Reaktion des Immunsystems des Patienten abzuschwächen.
MM: Die Hoffnung ist also, dass es möglichst bald eine Impfung gibt?
Reina: Es gibt ja derzeit geradezu ein Wettrennen darum, wer den ersten Impfstoff auf den Markt bringt. Wir sollten da etwas vorsichtig sein. Ich jedenfalls werde mir den ersten Impfstoff nicht injizieren lassen. Zumal, wenn der aus China kommen sollte und niemand weiß, welche klinischen Studien er durchlaufen hat. Die Entwicklung eines Impfstoffes braucht einfach ihre Zeit und das bedeutet mindestens ein Jahr. Ein weiteres Problem wird dann die Massenproduktion sein. Es wird zunächst nicht genügend Impfdosen für alle geben.
MM: Das bedeutet dann auch, dass es in Spanien keine Impfpflicht geben wird?
Reina: In Spanien gibt es keine Impfpflicht, sondern nur Empfehlungen. Ich gehe davon aus, dass man auch in diesem Fall niemanden zwingen wird, sich zu impfen. Auch, wenn ich die Argumente der Impfgegner für falsch halte.
MM:Haben Ausnahmezustand und Ausgangssperre einen negativen Effekt auf Nicht-Corona-Patienten gehabt? Weil diese nicht zum Arzt gegangen sind oder weil Untersuchungen und Operationen verschoben wurden?
Reina: Es ist wahr, dass es in den vergangenen Monaten Herzinfarktpatienten gab, die erst relativ spät ins Krankenhaus gefahren sind. Während die Leute früher beim ersten Anzeichen kamen, gab es jetzt Fälle, in denen die Beschwerden schon seit drei Tagen andauerten. Ich glaube dennoch nicht, dass das einen erheblichen Einfluss auf die Sterblichkeit hatte. Mittlerweile hat sich die Situation ohnehin wieder normalisiert. In den Krankenhäusern und Gesundheitszentren funktioniert die Trennung zwischen Coronapatienten und anderen Patienten reibungslos.
MM: Anfangs hieß es wochenlang, Schutzmasken seien nicht nötig. Jetzt haben wir die Maskenpflicht. Was ist da schiefgelaufen?
Reina: Ich habe von Anfang an gesagt, dass Schutzmasken nötig sind. Schlicht und einfach, weil sie eine Art Barriere darstellen. Es ist vollkommen klar, dass sich auf diese Weise Spuckepartikel, die Viren enthalten können, nicht so leicht verbreiten. Ich habe nicht verstanden, weshalb es nicht viel früher eine Maskenpflicht oder zumindest eine klare Empfehlung gab. Meiner Meinung nach war das ein Fehler. Ob das jetzt, ganz am Ende der Pandemie noch sinnvoll ist, angesichts der niedrigen Zahl aktiver Fälle? Um mit jemandem zusammenzutreffen, der das Virus hat, muss ich ja statistisch gesehen 100.000 Menschen treffen.
MM: Wie bewerten Sie das Vorgehen der spanischen Regierung in dieser Pandemie?
Reina: Ich finde nicht, dass der Umgang mit der Situation in Spanien schlecht war. Er war der jeweiligen Informationslage angemessen. Natürlich kann man jetzt sagen: Die Frauentagsdemonstrationen am 8. März hätten abgesagt werden müssen. Die Ausgangssperre aber, ebenso wie die jetzige Lockerung, waren die richtigen Entscheidungen.
MM: Die strenge Ausgangssperre hat die Infektionsrate auf Mallorca sehr gering gehalten, bei etwa 2,5 Prozent. Wie problematisch ist das im Hinblick auf die Immunisierung der Bevölkerung und eine mögliche zweite Infektionswelle?
Reina: Nur fünf Prozent der Bevölkerung Spaniens hatten Kontakt zum Virus. Das heißt, dass die ganz große Mehrheit noch immer keinerlei Antikörper gebildet hat und deshalb völlig schutzlos ist, sollte sich das Virus wieder ausbreiten. Wir wären dann wieder ganz am Anfang.
MM: Wie lange ist ein Corona-Patient anschließend immun?
Reina: Das ist derzeit die große Frage. Zum einen bilden Patienten, die schwer erkrankt sind, viel mehr Antikörper als solche mit leichtem Krankheitsverlauf. Wir wissen noch nicht, welche Menge Antikörper für einen effektiven Schutz nötig ist. Wie lange die Immunität anhält, wird erst mit der Zeit klar sein. Zu dem Zweck untersuchen wir in Son Espases einmal im Monat alle Corona-Patienten, die bei uns behandelt worden sind.
Die Fragen stellte Jonas Martiny
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