Als Francisco Lopera auf dem Weg zu seinem Auto ist, erklärt er zwei Frauen den Weg. „Die Treppe hoch und rechts”, sagt er den Impfwilligen am Dienstagnachmittag am Universitätskrankenhaus Son Espases in Palma. Francisco Lopera hat gerade selbst seine zweite Dosis Moderna erhalten. Er, 26 Jahre alt und Mallorquiner aus Son Ferrer in der Nähe von Magaluf, hatte schnell entschieden, sich impfen zu lassen.Genauso wie viele seiner Freunde. „Ich kenne niemanden, der noch nicht dran war.”
Er und seine Kumpel stehen stellvertretend für zahlreiche Spanier. Mallorca und die Nachbarinseln haben am Donnerstag 70,3 Prozent Impfquote erreicht, was mehr als 727.000 immunisierten Menschen entspricht. Das hat das balearische Gesundheitsministerium mitgeteilt. Die Zahl bedeutet die vermeintliche Herdenimmunität. Und jeden Tag kommen ein paar Zehntelprozent, ein paar Tausend hinzu. Schafft der Archipel auch 90 Prozent?
Von einer Impfquote wie in Spanien träumen andere Länder
Nach Angaben des spanischen Gesundheitsministeriums vom Mittwoch sind in ganz Spanien rund 30 Millionen Menschen vollständig immunisiert – das sind gut 63 Prozent der Bevölkerung. Spanien verimpft etwa drei Millionen Dosen je Woche – obwohl Urlaubszeit ist und Geimpfte anders als in Deutschland kaum Privilegien haben. 73 Prozent der Menschen sind erstgeimpft, in spätestens drei Wochen dürfte auch landesweit die Herdenimmunität erreicht sein.
Von so einer Impfquote können andere Länder nur träumen, Spanien führt das europäische Ranking zusammen mit Dänemark und Portugal an, wie eine Auswertung der britischen Universität Oxford in Zusammenarbeit mit dem Portal Ourworldindata zeigt. Deutschland liegt bei gut 57 Prozent Zweitimpfungen, das Impftempo geht seit Juni deutlicher als in Spanien zurück.
Spanien hat Ende der 70er Jahre eine Epidemie dank Impfungen besiegt
Was sind Gründe für die hohe Bereitschaft? Wieso denken Spanier bei diesem Thema so unkompliziert? Was macht die Ausnahme aus? In Spanien gebe es eine regelrechte Impfkultur, sagt Amós García, Chef der spanischen Gesellschaft für Immunologie, der Zeitung „El País”. Eine Übersicht des spanischen Gesundheitsministeriums über Erstimpfungen etwa gegen Hepatitis B oder Poliomyelitis zeigt Quoten von mehr als 97 Prozent. Auch die Grippeschutzimpfung erhielten vergangenes Jahr mehr als 65 Prozent der über 65-Jährigen. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 39 Prozent.
Ein anderer Experte, Alberto Infante, ehemaliger Professor für Internationale Gesundheitswissenschaft, verweist darauf, dass Spanien Ende der 1970er Jahre eine Poliomyelitis-Epidemie dank Impfungen besiegt habe. Es war die Zeit, als in anderen europäischen Ländern impfskeptische Bewegungen aufkamen und sich etablierten. „In Spanien leben heute wenige Impfgegner und sie haben wenig Gewicht.” Hingegen gibt es in Deutschland einen Skandal, weil eine Krankenschwester im Kreis Friesland mehr als 10.000 Impfwilligen Kochsalzlösungen gespritzt hat.
Dass Impfgegner in Spanien kaum organisiert sind, weiß auch Eugenia Carandell. Sie ist Leiterin der Impfkampagne auf den Balearen und sagt, dass Spanier großes Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem hätten. Dass sich derzeit so viele Menschen in Spanien gegen Corona impfen ließen, sei eine Reaktion auf das vergangene Jahr.
In den ersten Wochen der Pandemie starben landesweit 30.000 Menschen. Insgesamt liegt Spanien bei den mit und an Corona Verstorbenen mit 82.000 über dem europäischen Durchschnitt. „Die Leute haben sich erschreckt, wie viele alte Menschen gestorben sind.” Die Impfquote in Spanien bei den über 80-Jährigen liegt bei 100 Prozent. Mehr als 98 Prozent der 70- bis 79-Jährigen und gut 92 Prozent der 60- bis 69-Jährigen haben sich impfen lassen.
Bisher wurden nur Obdachlose mit mobilen Impfteams immunisiert
Für Eugenia Carandell ist es eher eine Herausforderung, die 20- bis 40-Jährigen zum Impfen zu bewegen. „Sie sehen das Risiko, an Corona zu sterben, nicht so stark wie ältere Menschen”, sagt Carandell. Viele von ihnen seien derzeit im Urlaub. Besondere Aktionen, wie in Dortmund vor einem Fußballstadion zu impfen, erwägt die 61-Jährige noch nicht. Bisher wurden nur Obdachlose von mobilen Impfteams immunisiert.
Hingegen besteht bis mindestens 31. August das Angebot, sich ohne Termin impfen zu lassen. Das ist in den Impfzentren Son Dureta in Palma, in Inca und Manacor möglich. Die Zeiten sind von montags bis freitags von 16 bis 19 Uhr und am Wochenende von 10 bis 19 Uhr. Seit Mitte August kamen vier von zehn Impfwilligen spontan.
Obwohl es sich auf den Balearen fast wie von allein impft, will Eugenia Carandell die Menschen weiter dazu motivieren. Ihr Ziel ist, eine Quote von 100 Prozent der Bewohner – ausgenommen Kinder bis zwölf Jahre – zu erreichen. Carandell schließt sich Experten an, die betonen, dass 70 Prozent für eine Herdenimmunität nicht reichten. „Manche behaupten, dass es sie gar nicht gibt. Andere sagen, es müssten 95 Prozent der Menschen geimpft sein.”
Die Debatte über die „Inmunidad de rebaño” habe begonnen. Erste Länder erreichen bald die 70-Prozent-Marke. Fest steht für Eugenia Carandell: „Der Impfstoff ist exzellent, um schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Aber er ist nicht exzellent, um die Weitergabe des Virus zu verhindern.” Dafür sei besonders die Delta-Variante verantwortlich.
Einer, der Teil der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen ist, heißt Juan Soler. Er ist 22 Jahre alt und hält sein Impfzertifikat vor dem Krankenhaus Son Espases in der Hand. „Ich habe keine Lust mehr auf Uni von zu Hause”, sagt der Student der Bildenden Künste. „Es geht darum, die Herdenimmunität zu erreichen.” Er sei nicht stolz auf viele Dinge, die in Spanien passierten. Aber die hohe Impfquote löse ein gutes Gefühl aus.