Schon beim Abbiegen in den schmalen Feldweg zur Color Horse Ranch in Santa Eugènia taucht man in die Kulisse eines alten Westernfilms ein: Die rund 100 Hektar Land, die das Anwesen umgeben, erinnern ein wenig an die weitflächige Prärie in den Vereinigten Staaten. Vor den Toren der Reitanlage werden die Gäste von der 23-jährigen Michelle Wesserling und ihrer Mutter Angela in Empfang genommen. Bei einem Rundgang auf dem Hof präsentiert die deutsche Auswanderin als erstes stolz ihren Quarterhorse-Wallach „Rock”. „Er war mein schönstes Geschenk überhaupt”, sagt Michelle Wesserling mit strahlenden Augen und streichelt dem braunen Pferd sanft über die Nüstern. Ihre Mutter hatte ihr den Wallach vergangenes Jahr zum Geburtstag geschenkt.
Die beiden Hamburgerinnen betreiben seit vier Jahren die Color Horse Ranch in der Inselmitte. Seit sieben Jahren leben die Frauen bereits auf Mallorca. Auf ihrem Anwesen sind zudem 27 Pferde, vier Schweine und elf Hunde zu Hause. Mit der eigenen Ranch haben sich die beiden Frauen ihren Lebenstraum erfüllt. 2015 entschloss sich Angela Wesserling nach einem Mallorca-Urlaub endgültig auszuwandern.„Das ausschlaggebende Argument war vor allem das gute Wetter”, sagt die 55-Jährige und blickt hinauf in den wolkenlosen Himmel.
Die Idee mit der eigenen Ranch kam den beiden Frauen allerdings erst später. Zunächst studierte Michelle Wesserling Fotografie, ihre Mutter war hauptberuflich in der Erotikbranche als Domina tätig.„Ohne Pferde fehlte uns hier auf der Insel aber einfach etwas”, erzählt Angela Wesserling. Mithilfe eines Freundes kauften die beiden Frauen schließlich auf dem spanischen Festland bei Alicante eine kleine Herde von 38 Pferden auf und brachten sie nach Mallorca. Ganzjährig bieten die beiden Auswanderinnen seitdem zweistündige Ausritte in kleinen Gruppen für Anfänger, Kinder und Fortgeschrittene an.
Der Alltag auf der Ranch ist allerdings nicht immer so idyllisch, wie es auf den ersten Blick erscheint, sondern harte Knochenarbeit, sagt Michelle Wesserling. Ihr Tag beginnt um sieben Uhr morgens und endet gegen 20 Uhr.„Wenn ein Tier krank ist oder eine Stute ein Fohlen erwartet, geht der Tag sogar viel länger. Eigentlich habe ich keine festen Arbeitszeiten. Wochenende gibt es nicht.”. In den Morgenstunden mistet die Deutsche etwa drei Stunden die Stallungen aus. Im Anschluss werden die Pferde trainiert.„Ich verbringe täglich zwischen fünf bis sechs Stunden im Sattel”, erklärt die Hamburgerin lachend.
Passend zur Prärie-Kulisse haben sich die Frauen auf das Westernreiten spezialisiert. Bei diesem Reitstil geht es eher lässig zu: Großer Cowboyhut, kunstvoll verzierte Lederstiefel, schwerer Sattel und geschwungene Sporen. Seinen Ursprung hat das Westernreiten im Viehtrieb in den Vereinigten Staaten. „Im Vergleich zur klassischen Dressur, wo der Reiter mit festem Zügel auf das Pferd einwirkt, wird das Westernpferd mit losen Zügel und nur einer Hand geritten. Dabei reagiert das Pferd auf leichte Gewichts- und Schenkelhilfen. Die Cowboys mussten schließlich beim Rinderhüten einen Arm für ihr Lasso freihaben”, erklärt Michelle Wesserling. Zudem reagieren die Pferde verstärkt auf Stimmen und Geräusche: Das Schnalzen mit der Zunge fordert das Pferd auf, in die zweitschnellste Gangart Trab zu wechseln, ein Kussgeräusch signalisiert den Wechsel in die schnellste Gangart Galopp. Auch die Ausrüstung des Pferdes unterscheidet sich grundlegend von dem klassischen Reitstil. Ein Westernsattel verfügt über eine größere und bequemere Sitzfläche, da die Cowboys teilweise tagelang im Sattel sitzen. Der Knauf am vorderen Teil des Sattels dient zur Befestigung des Lassos.
Die Leidenschaft für diese Reitweise hat Angela Wesserling ihrer Tochter quasi in die Wiege gelegt. Michelle Wesserling gehört mittlerweile zu den Profis. Mit ihrem Wallach „Rock” nimmt sie auf dem spanischen Festland an Turnieren in der Disziplin„Reining” teil. Diese wird oft als„Dressur” des Westernreitens bezeichnet. Dabei werden die drei Gangarten Schritt, Trab, Galopp präsentiert. Zudem müssen die Reiter Spins (360-Grad-Drehungen auf den Hinterbeinen (Fachjargon: Hinterhand) und einen Sliding Stop (ähnlich einer Notbremsung) reiten. Dabei wirbelt reichlich Staub auf. Trainiert wird Michelle Wesserling von dem italienischen Trainer und Züchter Eugenio Latorre.
Mit der Unterstützung der englischen Präsidentin des Zuchtverbandes für American Quarter Horses (AQHA) und American Paint Horses in Spanien, Diane Graham und ihrer rechten Hand, Teresa Contreras, wollen die Frauen das Westernreiten auf Mallorca populärer machen. Deshalb organisiert die Color Horse Ranch in Kooperation mit dem Verband inselweit Westernreitturniere, die auf den Reitstil aufmerksam machen sollen.
Doch die Corona-Pandemie hat auch auf der Ranch ihre Spuren hinterlassen. Um alle Rechnungen zahlen zu können, mussten die Wesserlings bereits einige Pferde verkaufen:„Wir kämpfen gerade ums Überleben”, erklärt Angela Wesserling. Die Hamburgerin ist daher auch wieder in ihrem alten Beruf als Domina tätig und pendelt derzeit zwischen Deutschland und der Baleareninsel. Die größte Sorge der Frauen ist, dass ihre Tiere nicht ausreichend Futter bekommen könnten. Alle zwei Tage investieren die beiden Frauen etwa 260 Euro nur für Heu.„Ein Pferd kostet zwischen 250 und 300 Euro im Monat. Die Aufwendungen für Hufschmied und Tierarzt kommen separat hinzu”, erklärt Michelle Wesserling. Ihre Mutter und sie hoffen, dass nach den schleppenden Wintermonaten endlich wieder Gäste auf die Ranch kommen.„Momentan stecke ich meine ganze Zeit in die Ranch und hoffe, es geht bald wieder vorwärts”.
(aus MM7/2022)