Wir Deutsche und Mallorca! Kaum eine Insel hat sich derart ins emotionale Gedächtnis eines Volkes eingebrannt wie diese zerklüftete Schönheit im westlichen Mittelmeer. Sa Roqueta nennen sie die Insulaner – der kleine Fels. Mallorca, das ist für Millionen von Bundesbürgern mehr als ein Urlaubsziel – die Insel ist ein Ritual. Ein Versprechen auf Sommer, Sonne und Strand, gleichzeitig aber auch auf Ordnung und Zivilisation im Ausland, und – ja – für manche auch auf kalkulierbaren Kontrollverlust. "Malle", wie einige liebevoll, andere schnoddrig und wieder andere gar nicht sagen, ist ein deutsches Kollektivgefühl geworden. Und das kam so:
Die deutsch-mallorquinische Liebesgeschichte beginnt – von einigen ganz vereinzelten Pionieren vor und während des Krieges einmal abgesehen– in den 1950er-Jahren. Spanien unter Franco ist arm, aber sonnenverwöhnt, und Mallorca – damals noch weit entfernt von Betonburgen oder Sangría-Eimern – lockt als exotische Perle im Mittelmeer. Für viele Westdeutsche ist es die erste Begegnung mit dem Süden: Der erste Flug, der erste Sandstrand, das erste Mal Knoblauch satt auf dem Teller. Anfangs reisen nur wenige, meist wohlhabende Pioniere – Schriftsteller, Künstler, Diplomaten – auf die Insel, die damals noch einzig von Orangenhainen, knorrigen Olivenbäumen und Maultieren geprägt ist.
Mit dem Wirtschaftswunder in Deutschland beginnt Mallorcas Aufstieg
Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Bundesrepublik geht das los, was man "Tourismus für alle" nennt. Die Deutschen entdecken Mallorca – und umgekehrt entdecken findige mallorquinische Hoteliers-Familien den Tourismus als echte Einkommensquelle.
Eine Schlüsselrolle spielte dabei unter anderem ein Hotel: das Riu San Francisco, eröffnet 1953 an der später legendären Playa de Palma. Es war das erste Haus der Familie Riu – heute ein Weltkonzern – und das erste Hotel auf Mallorca, das sich explizit an ausländische Badegäste richtete. Es bot Komfort, Küche mit Rücksicht auf deutsche Mägen – und vor allem: verlässlich Sonne. Und gilt damit als eine der Geburtsstätten des Massentourismus auf Mallorca.
Insel wird zum Labor des Pauschaltourismus
Bald folgen weitere Häuser, neue Flugverbindungen, und die Insel wird zum Labor des Pauschaltourismus. Deutsche Reiseveranstalter wie Neckermann, TUI (damals noch Touropa) und ITS perfektionieren das Modell: Flug, Transfer, Hotel, Halbpension – alles organisiert, alles kalkulierbar. Es war die Demokratisierung des Reisens. Wer sich einst mit dem Binnensee begnügte, saß nun – sofern er es sich leisten konnte – mit Strohhut und Kameratasche im Flieger nach Palma.
Der Playa de Palma, einst ein stiller Streifen Sand mit Fischerhütten und Kiefern, wird in den 1970er-Jahren langsam aber sicher zur Küstenmetropole. Innerhalb weniger Jahre entstehen Urlauberkomplexe, Einkaufszentren, Promenaden. Mallorquinischen Hotelunternehmen wie Meliá, Barceló oder Riu sollen später Weltkonzerne werden. Gemeinden wie El Arenal verwandeln sich vom Küstenkaff zur deutschen Urlaubskolonie. Es ist die Ära der "Sonne zum Festpreis", des Familienurlaubs mit Reiseleitung und Musikabend – eine Mischung aus Abenteuer und Verlässlichkeit.
Und Mallorca machte mit. Die Insulaner passten sich an, lernten Deutsch, bauten internationale Küchen, verlängerten ihre Saison. Was als zaghafte Romanze begann, wurde zur stabilen Beziehung – gelegentlich knirschend, oft funktional, selten langweilig.
Ballermann-Rausch in den 1990er Jahren
Ende der 1980er und in den frühen 1990er-Jahren setzte ein Wandel ein. Nicht nur kamen jetzt auch die Ostdeutschen auf die Insel, das Reisen wurde individueller, der Massentourismus feierte sich plötzlich selbst – und mit ihm ein ganz besonderer Abschnitt der Küste: der sogenannte Ballermann. Der Begriff – eigentlich eine banale Nummerierung eines Strandkiosks, Balneario Nummer 6 – wurde zum Synonym für eine ganze Subkultur. Zunächst waren es Studenten, Bundeswehrsoldaten in Freizeit, Kegelbrüder oder Handwerksgesellen mit Fernweh, die sich hier trafen. Doch es dauerte nicht lange, bis aus dem Kiosk ein Pilgerort für eine neue Art der Sinnsuche wurde: laut, hedonistisch, manchmal entgrenzt.
Es ist leicht, darüber zu lachen. Doch es wäre ebenso kurzsichtig wie unfair, die Insel auf den Alkoholgehalt ihrer Touristen zu reduzieren. Denn Mallorca, so viel steht fest, ist ein Chamäleon unter den Reisezielen. Jenseits der Ballermänner liegt ein Archipel aus Dörfern, Bergen und Düften. Valldemossa etwa, wo George Sand und Frédéric Chopin einst überwinterten – wurde später zu einem Ort, in dem sich Literatur und Lavendel vereinen. Oder Deià, wo das Licht so golden fällt, dass selbst Maler zu Dichtern werden. Und auch hierhin fanden später die Urlauber, wie eigentlich in alle Winkel des Eilands.
Heute wohnen offiziell 23.000 Deutsche auf der Insel
Die Deutschen kamen – und blieben. Heute wohnen rund 23.000 von ihnen dauerhaft auf Mallorca. Offiziell gemeldet. Inoffiziell sollen es bis zu 60.000 sein. Manche führen Cafés, andere kleine Hotels, wieder andere leben auf Fincas, schreiben Krimis, pressen Oliven oder therapieren Yogis mit Klangschalen. Der Begriff "Aussteiger" greift zu kurz – viele sind Eingestiegene: ins "gute" Leben. In einen Rhythmus, der zwischen Siesta und Sonnenuntergang pendelt.
Vom Billig-Ziel zum Boutique-Paradies
Doch auch Mallorca selbst hat gelernt. Die Insel ist gereift, so wie auch ihre Gäste. Der Tourismus wurde mehr und mehr gesteuert (zumindest versucht man das), nicht mehr nur konsumiert. Es gibt Umweltauflagen, Mülltrennung, Zufahrtsbeschränkungen an neuralgischen Küstenstraßen. Seit etwa zehn Jahren wandelt sich das Image immer mehr – vom Billigziel zum Boutique-Paradies. 50 kleine Luxus-Oasen in alten Altstadt-Palacios gibt es alleine in Palma. Vor 15 Jahren war es kein Einziges. Öko-Hotels sprießen wie Mandelblüten, und statt Eimersaufen gibt’s Tapasverkostung mit Bio-Vi de la Terra.
Natürlich gibt es sie noch, die wild Feiernden. Mallorca wäre nicht Mallorca ohne den Kontrast. Ohne den Deutschen, der um 7 Uhr früh das Handtuch auf die Liege legt – und den anderen, der um dieselbe Zeit barfuß durch die Tramuntana wandert und dabei Rilke zitiert. Die Insel hält das bisher aus. Sie kennt ihre Gäste. Und sie weiß: Die Deutschen kommen sowieso immer wieder.
Veränderter Mallorca-Boom seit der Pandemie
Doch seit der Pandemie hat sich noch einmal ein neues Kapitel aufgeschlagen – oder besser gesagt: eine neue Dimension des deutsch-mallorquinischen Miteinanders. Plötzlich kommen nicht mehr nur die klassischen Pauschalurlauber, die Radfahrer, die Ballermänner, die Wanderer oder die Aussteiger, sondern vor allem junge, wohl situierte Städter aus Hamburg, Köln oder München, die sich übers Wochenende, für einige Monate oder dauerhaft eine Wohnung in Palma mieten. Man lebt "zur Hälfte" auf Mallorca sozusagen. Sie tauchen auf wie Schwärme urbaner Nomaden, die ihren Zweitwohnsitz zwischen Borne, Santa Catalina, El Molinar und dem Paseo Marítimo etablieren – oder irgendwo auf einer Finca. Zum Arbeiten geht man in den Co-Working-Space oder "pendelt" schlicht. Donnerstagabend Düsseldorf-Palma, Sonntagabend Palma-Düsseldorf.
Wie viel deutschen Kommerz und Glamour verträgt Mallorca?
Und längst nicht alle Deutschen auf Mallorca leben im Einklang mit der Insel und ihren Menschen. Neben den gut Integrierten Arbeitnehmern und Selbstständigen, den leidenschaftlichen Liebhabern und den stillen Genießen gibt es natürlich auch gut sichtbare Gruppe von Überheblichen: Fahrer teurer Sportwagen, die kein Wort Spanisch sprechen und sich eine Art Luxus-Parallelwelt aufbauen, in der Mallorca vor allem Kulisse für ihren eigenen Lifestyle ist. Deutsche Events, deutsches Networking, deutsche "Bubble"! Diese Blase aus Wohlstand und Abgrenzung sorgt mitunter für Spannungen und wirft Fragen auf, wie viel Kommerz und Glamour Mallorca noch verträgt, ohne seine Seele zu verlieren.
Wissenschaftler sprechen längst davon, dass Palma faktisch zu den Metropolregionen Deutschlands gehört – nur eben mit Flug- statt Landverbindung. In den Straßen und Barrios sieht man immer mehr deutsche Kennzeichen, in Wohnkomplexen, die früher von mallorquinischen Rentnern oder Familien bewohnt wurden, hört man jetzt Deutsch auf den Balkonen. Blonde Kinder spielen zwischen Orangenbäumen, die Grenzen zwischen "Mallorca" und "Heimat" verschwimmen.
Diese Entwicklung ist zweischneidig. Einerseits ist es eine Form von Integration – ein lebendiges, modernes Miteinander, das Insel und Besucher näher zusammenrücken lässt. Andererseits dringt die deutsche Lebenswelt immer tiefer in die der Insulaner ein. Einige Mallorquiner erzählen von einem Gefühl der Entfremdung auf ihrer eigenen Insel, einem leisen Verlust von Vertrautem inmitten der wachsenden ausländischen Präsenz.
Aus der Urlaubsliebe ist ein komplexes Geflecht geworden
Das ist eine neue Stufe in der Beziehung zwischen Mallorca und Deutschland: Aus touristischer Liebe ist ein komplexes Geflecht aus kultureller Durchdringung, Sehnsucht und auch Konflikt geworden. Eine Beziehung, die so vielschichtig ist wie die Insel selbst.
Denn Mallorca ist nahe – geografisch und seelisch. Es ist die Insel, die alles kann: Strand, Stille, Sangría. Wer sich auskennt, bestellt Pa amb oli statt Schnitzel. Wer länger bleibt, lernt, dass das Leben zwischen Meer und Mandeln manchmal einfach besser schmeckt, manchmal aber auch härter sein kann. Mallorca ist nicht nur Lieblingsinsel. Es ist für die Deutschen schlicht ein Lieblingsgefühl.