Borja Luengo weiß, wie sich das anfühlt: Der gebürtige Asturianer musste vor einiger Zeit erleben, wie jemand seine Wohnung mitten in Palma besetzte. Dass er das Problem dann selbst ziemlich rasch lösen konnte, lag daran, dass er Experte ist bei dem Thema. Mehr noch: Kaum jemand auf der Insel dürfte sich so gut damit auskennen, wie er. Denn Luengo ist Inspektor bei der Nationalpolizei in Palma und Chef der Motorradeinheit – der Einheit, die im Notfall meist als erste vor Ort ist. „Wir haben täglich mit Haus- oder Wohnungsbesetzungen zu tun”, sagt er.
Immer wieder sorgt das Phänomen auf der Insel für Schlagzeilen – wie auch in anderen Gegenden Spaniens. Erst kürzlich gab es internationale Aufmerksamkeit für den Fall eines schottischen Ferienhausbesitzers, über den zunächst das Mallorca Magazin berichtet hatte. Unbekannte verschafften sich Ende April Zutritt zu dessen Urlaubsdomizil in Costa de la Calma, als er gerade wieder abgereist war. Anwohner, die sich über die neuen Nachbarn wunderten, alarmierten die Polizei, die allerdings nicht wie erhofft für klare Verhältnisse sorgte. Das Haus ist nach fünf Monaten noch immer besetzt.
Haus- und Wohnungsbesetzungen sind in Spanien in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Problem geworden – das legt zumindest die Berichterstattung vieler Medien nahe. Vor allem Extremfälle sorgen für großes Aufsehen, Empörung, Angst und Schrecken. Fälle von Senioren, die nach einigen Tagen im Krankenhaus ihre Wohnung besetzt vorfanden und plötzlich mittellos auf der Straße standen, hat es in den vergangenen Jahren mehrfach gegeben. Oder Fälle von Leuten, die nach einer Urlaubsreise nicht wieder in ihre Wohnung kamen, weil sich dort jemand anders niedergelassen hatte.
Für den Rechtsanwalt Eduardo Luna, der in Palma eine Kanzlei hat und das Thema aus seiner täglichen Arbeit kennt, handelt es sich bei den illegalen Haus- und Wohnungsbesetzungen in Spanien um ein Problem „titanischen Ausmaßes”, das zudem gerade auf Mallorca immer größer werde. Toni Miranda wiederum geht mit dem spanischen Rechtsstaat hart ins Gericht: „Der funktioniert in diesem Bereich überhaupt nicht”, sagt der Vorsitzende des Verbandes der von Haus- und Wohnungsbesetzungen Betroffenen (Onao). Es gebe landesweit bis zu 150.000 besetzte Immobilien, schätzt er.
Vor einigen Wochen machte die Schlagzeile die Runde, für 77 Prozent aller Spanier handele es sich bei dem Thema Wohnungsbesetzungen um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Jeder vierte Spanier halte die Gefahr, Opfer einer solchen illegalen Besetzung zu werden, für „mittelhoch oder hoch”. Es gibt allerdings auch Stimmen, die das Thema für unnötigerweise aufgebauscht halten. So kritisierte die Verbraucherschutzorganisation Facua die Studie, da sie jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehre. Zudem komme in der Berichterstattung viel zu kurz, wer die Studie in Auftrag gegeben hat: Eine Versicherung, die auch eine spezielle Anti-Hausbesetzer-Police im Angebot hat.
Wer sich unter deutschen Immobilienmaklern und Rechtsanwälten auf der Insel umhört, bekommt ebenfalls den Eindruck, es handele sich um ein Problem, das längst nicht die Ausmaße hat, die ihm manche zumessen wollen. Rechtsanwalt Manuel Stiff etwa sagt: „In 30 Jahren Anwaltstätigkeit hatte ich mit vielleicht vier solchen Fällen zu tun.” Ähnlich äußert sich auch Hans Lenz, Vorsitzender des Maklverbandes Abini: „Ich selbst habe noch keinen einzigen Fall erlebt”, sagt er. „Ich habe den Eindruck, dass das Thema auf den Balearen unter Kontrolle ist.”
Auch Immobilienunternehmer Lutz Minkner erklärt, Zweitwohnsitze internationaler Eigentümer seien von Besetzungen nur selten betroffen. „Die Hausbesetzer nehmen bevorzugt Immobilien aus dem Bestand von Banken und großen Wohnungsgesellschaften in Besitz, weil die Linksregierung in Madrid diesen Eigentümern aus ideologischen Gründen den Rechtsschutz versagt.” Das im Frühjahr verabschiedete Wohnungsgesetz habe die Situation noch verschärft: „Der Eigentümer, der rechtswidrig ,entsetzt’ wurde, muss an einer Art Schlichtungsverfahren mitwirken, sich bemühen, Ersatzwohnraum zu beschaffen und unzählige Hürden überwinden, um zu seinem Recht zu kommen”, so Minkner.
Die nackten, offiziellen Zahlen belegen einen leichten Rückgang der Haus- und Wohnungsbesetzungen auf den Balearen. In den ersten fünf Monaten des Jahres gab es laut Kriminalitätsstatistik des spanischen Innenministeriums 174 Fälle. Im selben Vorjahreszeitraum waren es 179. In ganz Spanien sank die Zahl von 7485 auf 6648. Der Statistik zufolge war 2021 mit spanienweit 17.274 angezeigten Fällen das Rekordjahr in Sachen Haus- und Wohnungsbesetzungen. 2022 sank die Zahl dann auf 16.726. Schätzungen des spanischen Bauministeriums zufolge gibt es landesweit 26,8 Millionen Wohneinheiten. Auf den Balearen sind es 658.000.
Bei der Bewertung dieser Zahlen aber gehen die Meinungen weit auseinander. Während Linksparteien und eher liberale Medien davor warnen, das Thema überzubewerten und Panik zu schüren, lassen Konservative und Rechtspopulisten sowie die entsprechenden Medien keine Gelegenheit aus, die Dramatik der Situation zu betonen. „Die Debatte ist total ideologisiert”, sagt Toni Miranda vom Betroffenenverband Onao.
Der Ursprung des Problems liegt in der schweren Wirtschaftskrise, die Spanien ab 2008 heimsuchte. Damals verloren unzählige Spanier ihre Jobs und damit ihre Lebensgrundlage. Tausende konnten in der Folge ihre Miete oder ihre Hypothek nicht mehr bezahlen. Täglich gab es Berichte von Zwangsräumungen und ganzen Familien, die über Nacht keine Bleibe mehr hatten. In der Folge entstand in Spanien eine breite Protestbewegung, für die das verfassungsmäßig garantierte Recht auf würdigen Wohnraum ganz oben auf der Forderungsliste stand. Sie richteten sich vor allem gegen Banken und Investoren, die häufig unerbittlich gegen säumige Zahler vorgingen, gleichzeitig aber zehntausende Wohnungen als Spekulationsobjekte leerstehen ließen. Mit Unidas Podemos schaffte es eine aus dieser Protestbewegung hervorgegangene Partei schließlich bis in die Regierung.
Die Folge: „Der Gesetzgeber hat, anstatt Haus- und Wohnungsbesetzer zu verfolgen, Gesetze erlassen, die diesen zugute kommen”, sagt Rechtsanwalt Eduardo Luna. Das beste Beispiel dafür sei das neue Wohnungsgesetz. Nutznießer ist die gesamte, sehr heterogene Gruppe der Haus- und Wohnungsbesetzer. Darunter befinden sich Menschen, die aufgrund finanzieller Not keinen anderen Ausweg sehen, als eine leerstehende Wohnung zu besetzen. Die politisch motivierte Hausbesetzerszene auf Mallorca wiederum gilt im Gegensatz zu anderen Teilen Spaniens als recht klein. Hin und wieder besetzen Gruppen überwiegend junger Leute ehemalige Bankfilialen oder leerstehende Gebäude. Als problematischste Gruppe gelten professionell vorgehende Besetzer, die daraus geradezu ein Geschäftsmodell gemacht haben: Häufig werden die illegal in Beschlag genommenen Immobilien dann sogar weitervermietet.
Eine Haus- oder Wohnungsbesetzung zu beenden, ist in Spanien häufig kompliziert. Oft dauert es Monate, bis mit richterlichem Beschluss geräumt werden kann. Das Problem ist vor allem die komplizierte Rechtslage. Verlässliche Informationen haben nur wenige, stattdessen gibt es viele Gerüchte und Halbwahrheiten. So macht etwa die Behauptung die Runde, dass die Polizei nichts mehr machen könne, sollten seit der Besetzung bereits mehr als 48 Stunden vergangen sein. „Das ist eine urbane Legende”, sagt Rechtsanwalt Eduardo Luna. „Das steht nirgendwo geschrieben.”
Das bestätigt auch Inspektor Borja Luengo von der Nationalpolizei in Palma, der die Zusammenhänge am genauesten kennt. Wird eine Immobilienbesetzung angezeigt, versuche die Polizei in der Regel als erstes zu klären, ob diese eben erst stattgefunden hat. Werden die Besetzer nämlich auf frischer Tat ertappt oder gibt es eindeutige Indizien für einen eben erst durchgeführten Einbruch, kann die Polizei sofort handeln. „Für uns wird es problematisch, wenn die Besetzung schon mehrere Tage her ist”, sagt Luengo.
Dann nämlich müssten die Beamten aufwendige Ermittlungen in Angriff nehmen. Der springende Punkt sei, ob es sich bei der besetzten Immobilie um die Wohnung einer anderen Person handelt, erklärt er – um einen Ort also, an dem der Betroffene wohnt, sein Privatleben führt und seine Privatsphäre hat. Dann nämlich sei bei einer Besetzung der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllt, der die sofortige Festnahme des Täters ermöglicht. Die Wohnung im Sinne des Gesetzes sei dabei nicht allein die tatsächliche Hauptwohnung, sondern zum Beispiel auch eine Ferienwohnung. Das gehe so aus einer Grundsatzentscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofs hervor. „Solche Fälle, in denen es um Hausfriedensbruch geht, lassen sich in der Regel innerhalb weniger Stunden klären”, sagt Luengo. Gleichzeitig seien sie die große Ausnahme. In den fünf Jahren, die er nun der Motorradeinheit der Nationalpolizei vorsteht, habe er selbst keinen einzigen Fall von Hausfriedensbruch erlebt.
Schwieriger gelagert seien Fälle, in denen es sich bei der besetzten Immobilie nicht um die Wohnung einer anderen Person handelt, sondern beispielsweise um eine nicht genutzte Immobilie, um eine leerstehende Mietwohnung, eine ehemalige Bankfiliale oder ein verfallendes Haus. In diesen Fällen laute der Straftatbestand nämlich nicht Hausfriedensbruch, sondern „unrechtmäßige Aneignung von Wohnraum”, so Luengo. Dabei wiederum handele es sich lediglich um ein minder schweres Delikt.
Da die Haus- oder Wohnungsbesetzer um die rechtlichen Unterschiede wissen, vermeiden sie in der Regel, sich an Wohnungen anderer Leute zu vergreifen, um nicht den Straftatbestand des Hausfriedensbruches zu erfüllen und im Gefängnis zu landen, erklärt Luengo. Denn es spielt keinerlei Rolle, wie lange sich die Besetzer schon in der Immobilie befinden. Selbst wenn sie sich dort schon wohnlich eingerichtet haben: Hausfriedensbruch bleibt Hausfriedensbruch, erklärt Luengo. Man sollte allerdings schnell handeln und Anzeige bei der Polizei erstatten, sobald man von der Besetzung Kenntnis hat. Ansonsten könnte der Verdacht aufkommen, man habe diese toleriert.
Bei den Ermittlungen messen die Beamten vor allem den Aussagen von Nachbarn und Augenzeugen ein hohes Gewicht bei, erklärt Luengo. Meist lasse sich durch Befragungen ziemlich zweifelsfrei feststellen, ob der Betroffene tatsächlich in der besetzten Immobilie lebt oder dort zumindest hin und wieder seinen Urlaub verbringt. Ist dem so, steht einer sofortigen Räumung durch die Polizei nichts im Wege.
Handelt es sich dagegen offensichtlich nicht um die Wohnung einer anderen Person, müssen die Polizisten klären, ob die Besetzer selbst dort bereits eine Wohnung begründet haben. Dann nämlich würden die Beamten ihrerseits in dem Moment Hausfriedensbruch begehen, in dem sie sich Zutritt zu der Immobilie verschaffen. Eine knifflige Situation, erklärt Luengo: Wollen sich die Polizisten nicht selbst strafbar machen, müssen sie sich ihrer Sache sicher sein. Dabei verlassen sie sich auf ihr Ermittlergeschick und ihren Spürsinn. „Es handelt sich meist um eine Reihe von Indizien”, sagt er. Gibt es Möbel in der Wohnung? Ist die Küche eingerichtet? Befinden sich in den Schränken Kleider? Dies ist der Moment, in dem die Besetzer meist ihr ganzes Fachwissen aufbieten, um die Polizisten davon zu überzeugen, dass es sich bei der Immobilie um ihre Wohnung handelt. Seit Jahren machen im Internet Handbücher die Runde, in denen sämtliche Tricks und Kniffe aufgeführt sind.
Aber auch Immobilienbesitzer müssen nicht tatenlos bleiben. Vor allem eine Alarmanlage könne dafür sorgen, dass jede Besetzung schon nach kurzer Zeit wieder beendet ist, erklären Experten. Auf diese Weise lasse sich der Zeitpunkt des Einbruchs zweifelsfrei feststellen. Auch ein guter Anwalt kann dabei helfen, dass die Polizei den Fall gleich vor Ort klären kann. Denn eines ist klar: Gelingt das nicht, muss letztendlich ein Richter entscheiden. Das wiederum kann angesichts der chronischen Überlastung der spanischen Justiz lange dauern.