Es sind ungewöhnliche Inselbesucher. Stundenlang knien sie in der prallen Sonne auf einem Hügel und graben im Boden. "In den Erd- und Steinschichten finden wir über 2000 Jahre alte Keramikstücke. Das ist doch spannend", meint die junge Amerikanerin Victoria Wellington. Die Archäologie-Studentin führt zusammen mit elf Kommilitonen von der University of Washington einen Monat lang bei Son Servera Ausgrabungen durch. Die Gemeinde Son Servera koordiniert das Projekt. "Wir stehen auf einem túmulus , einem abgestuften Grabhügel", erklärt Jordi Hernández, einer der leitenden Archäologen, und deutet auf terrassenförmige Steinformationen. "Er stammt aus talaiotischer oder vortalaiotischer Zeit."
Mallorcas archäologischer Reichtum sucht seinesgleichen. 3000 archäologische Fundstätten zählt die Insel. Am bekanntesten ist die Ruine der römischen Stadt Pollentia in Alcúdia. Lange war sie auch der Motor der archäologischen Forschung auf der Insel. Einem Millionär ist es zu verdanken. "Ein Amerikaner namens William Bryant sah auf einer Spanienreise Ende der 1940er Jahre das Amphitheater in Tarragona", erzählt der Leiter der archäologischen Abteilung im Inselrat, Jaume Cardell. Fasziniert, weil er Amphitheater nur in Italien vermutet hatte, wollte er es gleich kaufen. "Man winkte ab, meinte aber, dass auf einer Insel etwas Ähnliches zu haben sei." So kam Bryant nach Pollentia, kaufte das Gelände, auf dem das römische Theater steht, und spendete fortan jedes Jahr eine Million Peseten für Ausgrabungsarbeiten.
Durch die Bryant-Stiftung und das 1957 gegründete Hispano-Amerikanische Archäologische Institut kamen jedes Jahr die besten spanischen und amerikanischen Archäologen nach Pollentia. In den 1960er Jahren forschten auch deutsche Archäologen auf Mallorca und führten moderne Methoden wie Luftbildprojektionen ein. Spanien sei dafür sehr dankbar gewesen, sagt Cardell: "Wir waren ja weitgehend von der Außenwelt isoliert. Man arbeitete so gut, wie man konnte, aber hier tat sich nichts."
Die ersten Ausgrabungen seien "romantisch" motiviert gewesen, meint Tomeu Vallori, einer der führenden Archäologen von Pollentia. "Man suchte nach schönen Fundstücken für das Museum." Heute wollen die Archäologen Erkenntnisse über die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung von Pollentia gewinnen. Schicht für Schicht bestimmen sie das Alter von Bauten und gleichen Ergebnisse ab. Die Datierung erfolgt durch Keramikfunde in den jeweiligen Schichten, deren Form kennzeichnend für Epochen ist, oder mit der Radiokarbonmethode. "Die Luft enthält Radioaktivität, die Menschen, Tiere und Pflanzen einatmen beziehungsweise aufnehmen", erläutert Vallori. Bei toten Organismen nehme die Radioaktivität allmählich ab. So könne das Alter nach dem Zerfallsgesetz bestimmt werden.
Ein Zehntel von Pollentia ist nach 90 Jahren Ausgrabungen freigelegt worden. Das Ziel sei nicht, die Stadt zu rekonstruieren, betont Vallori. "Das wäre auch zu riskant, denn Theorien verändern sich im Laufe der Zeit. Deshalb arbeiten wir an 3D-Animationen vom Leben in Pollentia. Das ist didaktischer für die Besucher und weniger aggressiv."
Ausgrabungen an arabischen Fundstätten beschränken sich im Wesentlichen auf die Reste des letzten muselmanischen Dorfes der Insel. "Sie liegen unter dem Stausee Gorg Blau. Wegen des Wassers kommen wir dort nur langsam voran", sagt Jaume Cardall.
Große Faszination übt dagegen die Talaiot-Kultur vom 13. bis 2. Jahrhundert v. Chr. aus. Talaiot bedeutet auf Katalanisch Wachtturm. Jeder kennt die dickwandigen Turmgebilde, die der Kultur ihren Namen gegeben haben. Fast 500 Talaiots stehen auf Mallorca. Schon vor Jahrhunderten wurde gemutmaßt, ob es sich um Wohnsitze von Riesen, maurische Aussichtstürme oder heidnische Tempel handele. Mehrere Talaiot-Dörfer mit ihren charakteristischen Großstein-Bauten sind inzwischen freigelegt und das Rätsel ist gelüftet: Die Talaiots dienten als Gemeinschaftsräume.
Es stehen aber noch viele Fragen offen, etwa: "Wie war die Gesellschaft strukturiert? Endete sie gewaltsam? Vermischte sie sich mit auswärtigen Kulturen, zum Beispiel der punischen?", sagt der Archäologe Jordi Hernández. Die Menschen wollten das erfahren. Das Problem sei aber, fügt Jaume Cardell hinzu: "Die Steine erzählen, aber nur ganz wenig." Neue Erkenntnisse erlange man ganz langsam, nach vielen Funden und Vergleichen.
An elf archäologischen Fundstätten finden zurzeit Ausgrabungen statt, oft in Kooperation mit Hochschulen. Die Zusammenarbeit mit deutschen Universitäten soll unbedingt wieder aktiviert werden, sagt Cardell. Das Wertvollste sei jedoch der Einsatz der vielen freiwilligen Helfer bei den Kampagnen im Sommer. "Sie kommen aus der ganzen Welt."
Ziel des Inselrats ist, Mallorcas archäologisches Erbe der Öffentlichkeit leichter zugänglich zu machen, "ohne es als neue Touristenattraktion zu vermarkten", betont Cardell. Bis auf Ausnahmen soll der Besuch von Monumenten kostenlos bleiben. Unter anderem sind archäologische Wander- und Radtourenführer in Arbeit.
STREIFZUG DURCH MALLORCAS VORGESCHICHTE
Wo die ersten Inselbewohner herkamen, darüber streiten Mallorcas Archäologen noch. „Die einen meinen von Frankreich, die anderen sagen von den Inseln, vor allem Sardinien“, sagt Jaume Cardell vom Inselrat. Fest steht, dass keine Mittelmeerinsel solange unbesiedelt blieb wie Mallorca.
Erst seit etwa 5500 Jahren leben hier Menschen. „Sie kamen mit Booten, brachten Ziegen, Schafe, Rinder und Schweine mit und lebten in natürlichen Höhlen“, erzählt Javier Aramburu, der die Ausgrabungen im prähistorischen Dorf Ses Païsses bei Artà leitet.
Die ersten Bauwerke um 1900 v. Chr. waren kollektive Grabstätten aus großen Steinblöcken, genannt Dolmen, die auch in anderen europäischen Regionen und Asien vorkamen. Die Menschen lebten über die Insel verstreut ohne Dorfverband bis etwa 1300 v. Chr.. Dann nahm die Bautätigkeit zu. Abgestufte Grabhügel und dann immer mehr Rundtürme (katalanisch: Talaiots) aus gigantischen Steinen wurden errichtet. Siedlungen für 300 bis 500 Einwohner entstanden.
Die Talaiot-Zeit brach an. Anders als heute lebten die Menschen in selbstversorgenden Einheiten zu fünf bis zehn Personen. Jede Einheit stellte ihre eigene Keramik, Kleidung und Nahrung her. „In den Talaiots traf sich die Dorfgemeinschaft zu Versammlungen und Zeremonien. Tiere wurden darin geschlachtet und die Fleischportionen an die Einheiten verteilt“, erzählt Javier Aramburu. Die Außenbeziehungen beschränkten sich auf die Einfuhr von Metallen, vor allem Zink, das es auf Mallorca nicht gibt und zur Kupfergewinnung gebraucht wurde. Aramburu begeistert die Talaiot-Kultur: „Sie war sehr friedlich und solidarisch, es gab keine Waffen, Hierarchien oder soziale Unterschiede.“ Erst vor Kurzem habe er eine Höhle in Calvià ausgegraben, in der die Überreste von 200 Menschen aus der Talaiot-Zeit lagen. „Junge, Alte, Männer, Frauen, ein ganzes Dorf. Alle trugen mehr oder weniger das Gleiche. Es gab kaum Anzeichen für Statusunterschiede. Die Menschen waren sehr gesund und robust.“ Sein Kollege Hernández ist nicht ganz von der klassenlosen Gesellschaft überzeugt: „Monumentalarchitektur verbindet man normalerweise mit komplexeren Gesellschaften.“
In jedem Fall geriet die Talaiot-Kultur gegen 700 v.Chr. in eine große Krise. „Wahrscheinlich schafften sie es nicht mehr, die Menschen zu ernähren“, meint Javier Aramburu. Hernández vermutet ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Die Gesellschaft brach zusammen, ganze Dörfer wurden verbrannt und zerstört und die Insel in politische, von einzelnen sozialen Gruppen beherrschte Einheiten aufgeteilt.
In der post-talaiotischen Zeit wurden die alten Dörfer wieder besiedelt, aber die Talaiots verloren ihre ursprüngliche Funktion. Neue Bauten für Zeremonien, genannt sanctuarios, entstanden.
Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. erlebte das Mittelmeer blutige Auseinandersetzungen zwischen den Mächten Karthago, Rom und Mazedonien. Mallorca beteiligte sich indirekt daran, in dem es junge Mallorquiner, die für ihre Künste als Steineschleuderer (foners) berühmt waren, als Söldner in die Armeen Karthagos schickte.
Der Name der Inselgruppe geht vermutlich auf die foners zurück (griechisch: ballein = werfen). „Damit nahm auch der Außenhandel zu“, sagt Jordi Hernández. „Besonders Glasperlen und Wein aus Ibiza wurden eingeführt.“ Wirtschaftliche Privilegien nahmen zu.
Der Sieg über Karthago im zweiten punischen Krieg (218-201 v. Chr.) machte Rom zur Großmacht im Mittelmeer. Im Jahr 123 v. Chr. besetzten die Römer auch Mallorca und gründeten zwei Städte, Palma und Pollentia, die bald einen Großteil der Insel kontrollierten. Mallorca wurde romanisiert: „Rom integrierte die Insel in das römische Verwaltungssystem, führte die lateinische Sprache ein, das römische Rechtssystem, seine Kultur und den Glauben an seine Götter“, berichtet Tomeu Vallori. Der Handel mit Italien florierte, die Wirtschaft blühte auf.
Mit der römischen Besetzung endet die Talaiot-Zeit und damit Mallorcas Vorgeschichte. Allerdings war die Romanisierung ein langer Prozess. „Er dauerte bis Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr.“, sagt Vallori.
SEHENSWERT
Talaiot-Siedlungen
Ses Païsses, Artà
Stadtrand von Artà, Schildern in der Stadt folgen. Geöffnet Mo-Fr von 10-17 Uhr, Sa von 10-14 Uhr, So und Feiertag geschlossen. Tel. 610-070010, www.tourism-mallorca.com/sespaisses/. Audioguides auf www.artamallorca.travel
S’Hospitalet Vell, Manacor
Carreterra des Cales de Mallorca 1. Immer zugänglich. Tel. 971-843065 (Museum von Manacor).
Capocorb Vell, Llucmajor
km 23 auf der MA 6015 in Cala Pi. Geöffnet Mo-So von 10-17 Uhr, Do geschlossen, Tel. 971-180155, www.talaiotscapocorbvell.com/
S’Illot, Sant Llorenç de Cardassar
Mitten im Touristenort S‘Illot. Info-Zentrum geöffnet Di, Do, Sa von 10-13 Uhr und Mi, Fr, Sa von 17-20 Uhr. So und Mo geschlossen. Tel. 971811475. Das talaiotische Dorf ist immer zugänglich.
Museum und Ausgrabungsstätte Son Fornés, Montuïri
Geöffnet Di- So von 10 - 14 Uhr und 16 - 19 Uhr, Sa und So nachmittag geschlossen. Tel. 971-644169, www.sonfornes.mallorca.museum. Die Ausgrabungsstätte ist immer zugänglich.
Nekropole und Finca von Son Real, Santa Margarita
Die Finca liegt bei Kilometer 17,7 auf der Ma-12 von Artà nach Port d’Alcudia. Geöffnet täglich 9-16 Uhr. Tel. 971185363. www.balearsnatura.com. Die Nekropole ist über die Küste sowohl von Can Picafort im Norden wie von Son Serra de Marina im Südwesten immer frei zugänglich.
Museum und römische Stadt von Pollentia, Alcùdia
Museum (Carrer de Sant Jaume 30) und römische Stadt geöffnet bis zum 30. September Di-Sa von 9.30-20.30 Uhr, So von 10-14 Uhr, Mo geschlossen. Tel. 971-547004. www.alcudia. net. Führungen können von Mo-Fr von 8-14 Uhr unter Tel. 971-897102 reserviert werden.
Links und Literatur
www.arqueobalear.es: Das Webportal der Archäologie auf den Balearen mit geschichtlichem Überblick, Beschreibung von Monumenten und weiterführenden Links zu den archäologischen Stätten auf Mallorca und Menorca.
Von Myotragus zu Metellus - Eine Reise in die Ur- und Frühgeschichte von Mallorca und Menorca, Mark Van Strydonck. Woher kamen die ersten Bewohner? Wie lebten sie? Was hat es mit den Talaiots auf sich? Diesen und vielen anderen Fragen spürt der belgische Archäologe Mark Van Strydonck nach. Fotos, Grafiken und Landkarten ergänzen den archäologischen Reiseführer. 160 Seiten, kartoniert, Librum Publishers & Editors, 2014. Erhältlich im Buchhandel und bei www.librumstore.com
(aus MM 37/2014)