Zweimal im Jahr strömen Mallorquiner und Touristen früh morgens in die Kathedrale. Grund ist nicht eine besondere Messe, sondern eine außergewöhnliche Erscheinung. Um sie zu erleben, muss man dem Hauptaltar den Rücken kehren. Am anderen Ende des Kirchenschiffs schiebt sich von links langsam in einer nicht wahrnehmbaren Bewegung eine Lichterscheinung unter die Fensterrose über dem Westportal.
Kein Wunder im religiösen Sinn, aber ein wunderbares Naturschauspiel in Rot, Blau, Gelb und Grün: Die aufgehende Sonne wirft ihr Licht durch die mehr als 1200 Glasstücke der Hauptrosette über dem Presbyterium und projiziert deren Form, Muster und Farben auf die Sandsteinwand am gegenüberliegenden Ende des Kirchenschiffs.
Der Höhepunkt dieses Schauspiels dauert rund fünf Minuten und ist erreicht, wenn die Lichtrosette zusammen mit der Fensterrose am Westportal eine Acht bildet. Das Ereignis wiederholt sich jedes Jahr am 11. November und am 2. Februar.
Diese Daten haben immer wieder zu der Spekulation geführt, dass die Baumeister der Kathedrale ein besonderes Wissen gehabt hätten. Tatsächlich ereignet sich dieses farbenprächtige Spektakel jedoch auch an den Tagen danach. Doch an den beiden Tagen mit dem besonderen Datum lässt das Domkapitel die Kathedrale bereits um 8 Uhr öffnen, damit jeder dieses "Lichtwunder" bestaunen kann.
Die Erklärung für diese Erscheinung liegt in der Ausrichtung der Kathedrale und dem Lauf der Sonne. Ihre Bahn verläuft um den 11. November und den 2. Februar genau so, dass bei Sonnenaufgang das Licht durch die Hauptrosette auf die gegenüberliegende Wand scheint.
Wenn Schaulustige ihre Smartphones, Spiegelreflex- oder Videokameras bereithalten, ist das ebenfalls ein Schauspiel. Zumal bei bedecktem Himmel, denn dann wird dieses Ereignis zu einer Zitterpartie. Schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, verschwindet die Farbspiegelung wie von Zauberhand, und ein enttäuschtes Raunen geht dann gewöhnlich durch das Kirchenschiff. Zieht die Wolke jedoch weiter, leuchten die Farben an der Wand erneut auf - zur hörbaren Erleichterung der Besucher. Dann werden die Handys wieder hochgehalten, die Kameras klicken und surren, und der Tag ist gerettet.
(aus MM 45/2014)