VON ALEXANDER
SEPASGOSARIAN
D ienstag, 15. Juni. In Portugal macht sich die deutsche
Nationalelf für ihr erstes EM-Spiel gegen Angstgegner Holland
bereit. Auch auf Mallorca fiebern die Fans der Fußball-Schlacht
entgegen. Das Protokoll von der Playa de Palma:
20.25 Uhr: Im Bierkönig herrscht zwischen den Tischen dichtes Gedränge. Über den Köpfen wirbelt eine aufgeblasene Sexpuppe herum, nur mit einem orange-farbenem Holland-T-Shirt bekleidet. Wo sie auch landet, wird sie gleich wieder weggeboxt. Über die Großleinwand flimmert Rudi Völler.
20.35: Im Mega-Park stehen die Massen dicht an dicht, aus den Boxen schallt Country-Roads, auf den Tischen ragen die meterlangen Biersäulen zum Selbstzapfen in die Höhe. „Dieser Gang muss für die Gastronomie frei bleiben”, sagt ein Mitarbeiter und weist Ankömmlinge in den schwülen Bereich, wo sich die Gäste bereits zusammenballen. Drei junge Frauen mit blumengeschmückten Abendkleidern folgen nur zögerlich.
20.45 / 1. Spielminute: Auf dem TV-Bildschirmen des niederländischen Cafés De Babbelar kicken die Spieler los. Nach zwei völlig verregneten Tagen steht endlich wieder die Sonne am Abendhimmel über der Bucht von Palma. Ihr Licht lässt das spiegelglatte Meer in Blau und Gold zerfließen.
2. Minute: Van Nistelrooy überflügelt Wörns und taucht frei vor Kahns Tor auf. Die Niederländer sind wie elektrisiert. Die meisten tragen orangefarbene T-Shirts, das ganze Straßen-Café ist mit Plastikgirlanden und Luftballons in derselben Farbe dekoriert. Eine junge Niederländerin mit langem Blondhaar taucht auf, setzt sich an einen Tisch. Typ Fotomodell, knappes Top, enger Strickrock, atemberaubende Figur. Die anderen starren auf das Grün im Fernsehen.
12 . Minute: Gelb für Kuranyi, wird von den Niederländern jubelnd begrüßt. Der holländische Kommentar klingt, wie wenn Rudi Carrell Deutsch spricht, und es ist dennoch kein Wort zu verstehen. Die Sonne verschwindet über den Bergen hinter einer Wolke. Sie gleicht einem Atompilz, der über Galilea steht.
16 . Minute: Vier übermütige Mädchen laufen am Café vorbei, rufen: „Deutschland, Deutschland!”. Der Kellner trägt eine orangefarbene Perücke, ruft Erinnerungen an den TV-Kobold Pumuckl wach. „Drie Zestig” will er für zwei kleine „Biertje”. Eine von drei Holländerinnen ist am Steiß tätowiert.
29 . Minute: Die Sonne ist hinter den Bergen untergegangen. Der ganze Himmel trägt „Oranje, oranje!” Einzig Hollands Torwart muss ein gelbes Trikot tragen.
30 . Minute: Freistoß Frings. Der Ball prallt an den Pfosten und kullert ins Tor. „O, wat dom”, flucht ein Niederländer. Andere bedecken ihre Häupter mit den Händen wie mit Schande. Eine Touristen-Bahn rollt am Café vorbei. Fährt da Hollands Zug ab?
42 . Minute: Van der Vaarts schießt am Tor knapp vorbei. „Ooohhh!”. Nutzt alles nichts. Auf einem der Oranje-T-Shirts steht: „Rot up trut. Ik drink met mate.” Was das bedeutet? Keine Ahnung.
(Halbzeit)
46 . Minute: Die Nationalelf ist wieder vollständig versammelt. Auch im Mega-Park. Zumindest den weißen Trikots nach. Falls die Träger nicht mit gänzlich entblößter Brust auf den Stühlen tanzen. „Deutschland, Deutschland” schallt es aus tausend Kehlen, ein Meer von Armen und Händen klatscht über den Köpfen. Ein Mann mit rasiertem Schädel hat sich das breite Kreuz mit schwarz-rot-goldenem Tuch behängt.
53 . Minute: Ballack ballert am Kasten der Niederländer vorbei. Alles stöhnt auf. Neben der Mega-Leinwand funkelt eine Elektropalme rot, gelb, grün im nachtblauen Himmel. Rudis Mannen wetzen scheinbar im schwerelosen Raum umher. Der deutsche Kommentar geht im Radau unter.
60 . Minute: Die Menge skandiert à la Guantanamera: „30 Minuten, Ihr habt noch 30 Minuten...” Eine Blondine im roten Pullover sagt: „Oh Gott, hoffentlich gewinnen die Deutschen.”
69 . Minute: Die Niederländer rennen verzweifelt umher, während ein Kellner verzweifelt ein Tablett hoch über dem Kopf durch die aufgepeitschte Menschenmenge balanciert. In den Trinksäulen fällt der Bierpegel bedrohlich. Glasige Augen halten jeden Ballwechsel fest. Jemand reicht am Tisch einen halbvollen Bierseidel zum Umtrunk: „Das Blut Hollands!”
74 . Minute: Kahn, der Held, hält. „Kahni, Kahni...”
81 . Minute: Tor-Schock im Mega-Park. Die Luft bleibt weg. Dann helle Empörung, Aufschreien, Buh!, Nein!, Arrrrgh!
84 . Minute: „Das kann echt nicht wahr sein. Hoffentlich kriegen wir nicht noch einen rein”, jammert ein Mann am Nebentisch.
86 . Minute: Kahn rettet mit Fäusten. Die Menge tobt. Gefühlsbäder aus Angst, Euphorie, Schweiß und Bier. Die Kellner bahnen sich per Trillerpfeife den Weg durch die Massen.
Abpfiff: Erleichterung macht sich breit: keine Niederlage. Und Enttäuschung: doch kein Sieg. Unentschieden eben. Aus den Boxen dröhnen die Schlager los: „Country Roads, take me home...”