Das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist schwach; das Wirtschaftswachstum in Spanien ist solide. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland erreicht Rekordhöhen; in Spanien sinkt sie seit Jahren. Die Maastricht-Stabilitätskriterien wird Deutschland im vierten Jahr hintereinander brechen; Spanien steht als Musterschüler da.
Diese Fakten sind weithin bekannt. Dazu kommt eine „gefühlte” Tatsache: Die Stimmung in Deutschland ist schlecht; die Stimmung in Spanien ist gut. Lässt sich das eine mit dem anderen erklären? Und was ergibt ein Vergleich der deutschen und spanischen Wirtschaft, wenn man tiefer schürft? Steckt Deutschland wirklich in einer Krise, und ist die spanische Wirtschaft wirklich so robust, wie es auf den ersten Blick scheint? Ein Blick auf einige wichtige Statistiken und Zahlen bringt dabei einige überraschende Ergebnisse.
Die spanische Wirtschaft wächst deutlich stärker als die deutsche: Seit 1995 hat die Steigerungsrate des Bruttoinlandsproduktes (BIP) hierzulande immer deutlich über der deutschen gelegen; das Plus von 2'4 Prozent im Jahr 1996 war noch die schwächste Steigerung – und hätte sämtliche Zahlen aus Deutschland im selben Zeitraum geschlagen, lediglich 2000 gab es dort mit plus 3'2 Prozent so etwas wie Dynamik.
Bricht man das BIP herunter auf jeden einzelnen Bürger, liegt Deutschland jedoch immer noch deutlich vor Spanien. Liegt der Durchschnitt der 25 EU-Mitgliedsstaaten gemessen an der Standard-Kaufkraft bei 100, kommt Deutschland 2004 auf 109'4, Spanien dagegen nur auf 98'3. Mit anderen Worten: Die Wirtschaftskraft pro Einwohner liegt in Deutschland über dem Durchschnitt, in Spanien leicht unter dem Durchschnitt. Doch der Abstand schmilzt: Deutschland kam bei diesem Indikator im Jahr 1995 noch auf 121'8, Spanien lag bei 87'0.
Die dynamische Wirtschaftsentwicklung in Spanien hat positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, das schlappe Wachstum in Deutschland auch. Die Arbeitslosenquote in Spanien betrug in der Mitte der 90er Jahr knapp 20 Prozent, seitdem ist sie ständig gesunken, bis auf offiziell noch 9'4 Prozent im Juli 2005. In Deutschland geht die Veränderung in die andere Richtung: Offiziell waren im Mai 1992 lediglich 5'9 Prozent arbeitslos gemeldet, im Juni 2005 lagen Spanien und Deutschland mit einer Erwerbslosenquote von 9'5 Prozent erstmals gleichauf.
Nicht nur die Arbeitslosenquote ist in Spanien gesunken, gleichzeitig ist die Zahl der Beschäftigten kontinuierlich gestiegen, zuletzt 2004 um 2'6 Prozent. Im zweiten Quartal waren knapp 18'9 Millionen Menschen in Spanien versicherungspflichtig beschäftigt, ein neuer Rekord. Im Juli 2005 lag die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bei 38'76 Millionen.
Die Erwerbsquote, also der Anteil der Menschen von 15 bis 64 Jahren bezogen auf die Bevölkerung gleichen Alters, liegt in Deutschland mit 65'0 Prozent gleichwohl noch höher als in Spanien mit 61'1 Prozent. Während Deutschland seit 1993 die Quote weitgehend stabil halten konnte, hat sie in Spanien jedoch einen riesigen Sprung gemacht: 1993 lag sie noch bei 46'6 Prozent, der mit Abstand niedrigsten Zahl der EU. Jetzt liegt der europäische Durchschnitt übrigens bei 63, 3 Prozent.
In der Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes wird meist die Produktivität als Messlatte herangezogen. Die durchschnittlichen Gesamtkosten pro Arbeitsstunde eines Vollzeit-Beschäftigten belaufen sich in Deutschland auf 27'93 Euro, in Spanien nur auf 14'21 Euro (Zahlen von 2003). Hohe Arbeitskosten können aber auch bedeuten, dass die Beschäftigten besonders gut qualifiziert sind und damit die Produktivität besonders hoch, dass also wenige Beschäftigte viel erwirtschaften und dafür verhältnismäßig viel verdienen.
Das belegt die Statistik für das Bruttoinlandsprodukt pro abhängig Beschäftigtem. Auf Basis des Index 100 der 15 Mitglieder der alten EU erreicht Deutschland 2004 den Wert 97'2, Spanien mit 96'0 unwesentlich weniger. Ein deutlicher Unterschied tritt jedoch zutage, wenn man das BIP pro Arbeitsstunde betrachtet. Hier liegt Deutschland 2003 mit 103'3 über dem Durchschnitt, Spanien fällt mit 87'1 zurück. Mit anderen Worten: In Deutschland werden im Schnitt pro Stunde mehr Werte geschaffen als in Spanien.
Wem diese Zahlen zu abstrakt sind: Ein Beschäftigter in den Bereichen Industrie und Dienstleistungen wird in Deutschland mit durchschnittlich 40.375 Euro brutto pro Jahr entlohnt, in Spanien lediglich mit 19.220. Worüber die offiziellen Statistiken freilich keine Auskunft geben, ist der Umfang des inoffiziellen Marktes, also der Schwarzarbeit. Das Phänomen ist Expertenschätzungen zufolge in Spanien weiter verbreitet als in Deutschland, allerdings scheint Deutschland zumindest auf diesem Gebiet schnell aufzuholen im internationalen Vergleich.
Offiziell messbar ist jedoch der Wert der Im– und Exporte. Hier besteht zwischen Deutschland und Spanien ein sehr großer Unterschied - und er wird immer größer. Die Handelsbilanz in Deutschland ist nicht nur nach wie vor positiv, sie wird zudem von Jahr zu Jahr besser. 1995 exportierte Deutschland Waren und Dienstleistungen im Gesamtwert von 383'232 Milliarden Euro, bei Importen im Wert von 339'617 Milliarden Euro kam ein positiver Saldo in Höhe von 43'615 Milliarden Euro heraus. Im Jahr 2004 hat sich das vervielfacht: Der Überschuss ist auf die Rekordsumme von 156'081 Milliarden Euro angewachsen, wobei die Ausfuhren einen nie dagewesenen Wert von 733'456 Milliarden Euro erreichten (Angaben des Statistischen Bundesamtes).
Ganz anders sieht es hingegen in Spanien aus. Seit 1995 ist das Außenhandelsdefizit von 16'63 im Jahre 1995 auf 44'451 Milliarden im Jahr 2004 gestiegen. Tendenz 2005: weiter steil nach oben. (Angaben des Instituto Nacional de Estadística.) Das bedeutet, dass die Spanier die Einfuhren mit steigenden Kreditsummen finanzieren müssen.
Beim Betrachten des Spar– und Kreditverhaltens der Bevölkerung sticht ein weiterer Unterschied zwischen Deutschland und Spanien ins Auge. Die Nettosparquote misst den Teil des verfügbaren Nettoeinkommens, der nicht für den Konsum verbraucht wird und damit (theoretisch) für Investitionen zur Verfügung steht. In Deutschland sind das 7'1 Prozent des Bruttoinlandproduktes, in Spanien lediglich 6'1 Prozent. Da das BIP pro Kopf in Deutschland höher ist (siehe oben), erhält diese Zahl zusätzliches Gewicht.
Zum Abschluss noch eine Zahl. Im internationalen Vergleich messen Statistiker die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, indem sie die relativen Preise und Kostenfaktoren mit denen der wichtigsten internationalen Konkurrenten vergleichen. Steigt der Index, sinkt die Wettbewerbsfähigkeit, sinkt der Index, steigt die Wettbewerbsfähigkeit. In Deutschland erreichte die „Real effective exchange rate” 1995 einen Höchstwert von 117'28, Spanien lag im selben Jahr bei immerhin 102'63. Vergangenes Jahr lag der deutsche Wert bei nur noch 96'58, mittlerweile nicht mehr „Spitze”, Spaniens Wert ist auf 110'55 gestiegen.
Fazit: Die Statistik gibt sowohl für Spaniens als auch Deutschlands Wirtschaftskraft und Zukunfsfähigkeit ein uneinheitliches Bild. Trotz des in den vergangenen Jahren dynamischen Wachstums hat Spanien noch einiges aufzuholen. Allerdings geht hierzulande die Entwicklung des Parameters, der die Menschen am meisten betrifft, kontinuierlich nach oben: Beschäftigung. Auch der Staatshaushalt ist in viel besserem Zustand als in Deutschland. Inwieweit aber die Wirtschaft des Landes in den vergangenen 20 Jahren ausreichend Substanz aufgebaut hat, um gegen die neue internationale Konkurrenz zu bestehen, darüber streiten die Experten. Hier sind die Voraussetzungen in Deutschland immer noch besser.