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Verschollen in der Todesschlucht

Ein Ausflug durch die zerklüftete Bergwelt der Tramuntana mit Klettern und Schwimmen endete im Meer wie in einer Falle: Eine ganze Nacht verbringen zwei Freunde auf einem Felsen, inmitten der Brandung am Fuße der Steilklippen

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Die Meldung bestand aus sechs Zeilen: „Rettungskräfte haben zwei deutsche Touristen aus einer Schlucht befreit. Die beiden hatten eine Nacht in dem Trockenflussbett verbracht, doch es gehe ihnen gut, hieß es” (MM 36/2008). Hinter den 25 Wörtern verbirgt sich eine filmreife Rettungsaktion im Torrent de Mortitx in den Bergen zwischen Pollença und Kloster Lluc. Was als Kletterausflug von wenigen Stunden gedacht war, hätte im Meer vor den Steilklippen des Tramuntana-Gebirges ebenso gut tödlich enden können. Seit seiner Rettung weiß Thomas Müller: Er hat einen zweiten Geburtstag und einen zweiten Hochzeitstag.

Thomas Müller ist kein deutscher Tourist, sondern der Betreiber der Fahrradstation im Robinson Club Cala Serena. Der 42-Jährige aus Sachsen ist alles andere als leichtsinnig oder unsportlich. Nach seinem Militärdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR und dem Mauerfall studierte Müller Sport, im Osten wie im Westen. Wenn er auf Mallorca nicht mit Radgruppen unterwegs ist, sucht er seinen Ausgleich vom Beruf beim Bergsteigen oder Tauchen. Nach vielen Jahren Mallorca ist der Vater zweier Töchter kein Neuling in seinen Freizeitsportarten. Und dennoch unterlief ihm, bei aller Erfahrung, ein Kardinalfehler.

„Wir wollten die Schlucht von Es Mortitx durchklettern”, berichtet Müller. „Wir”, das ist neben ihm sein langjähriger Freund Dirk Meyer. Man kennt sich seit dem Sportstudium, ist in vielen Exkursionen zu einem eingespielten Team geworden. Das Duo informierte sich vorab im Internet über die Kletterbedingungen im Torrent de Mortitx. Es beachtete die notwendigen Seillängen und das Wetter. Doch es fand niemanden, der die Schlucht selbst schon einmal durchstiegen hatte. So konnten Thomas Müller und Dirk Meyer die Angaben nicht überprüfen, vertrauten auf Kenntnisse aus dritter Hand. Am Ende saßen sie einer falschen Information auf.

Der Torrent de Mortitx ist im Vergleich zu seinem großen Bruder, dem Torrent de Pareis, weitgehend unbekannt, aber nicht minder gefährlich. Der Bergbach, der den Tod bereits im Namen trägt, entspringt bei Regen an den Nordausläufern des 1103 Meter hohen Tomir und endet nach sechs Kilometern auf Meeresniveau. Vom Mittellauf an wird es steil und eng: In Jahrtausdenden hat das Wasser einen Spalt in die Felsen getrieben. In Kaskaden rauscht es in die Tiefe, die Fallhöhen können 20 Meter und mehr betragen. Dort, wo die Wassermassen aufschlagen, haben sie im Gestein tiefe Mulden ausgewaschen. In den Sommermonaten steht das Wasser dort. Die Tümpel können nur durchschwommen werden, bis im Halbdunkel der Schlucht – an den engsten Stellen ist sie nur einen Meter breit – die nächste Stufe talwärts zu überwinden ist.

Am 1. September brachte Thomas Müller seine beiden Töchter, neun und zwölf Jahre alt, in Palma zum ersten Unterrichtstag des neues Schuljahres. Dann fuhr er mit Meyer in die Berge. Um 15 Uhr wollten sie zurück sein.

Das Durchsteigen der Schlucht war ein Spaß, wie sie ihn erwartet hatten. In kurzen Neopren-Anzügen ging es hinab. Klettern, Abseilen, Springen, Schwimmen. Anfangs lief alles wie geplant. Dann die letzte Fallhöhe von gut 25 Metern. Wie auf einer gigantischen Rutschbahn gelangen die Männer in die Grotte der Steilküste, in der die Wogen des Meeres anbranden. Die beiden schwimmen ins Freie und begeben sich nach links. Dort soll sich, rund 200 Meter entfernt, ein schmaler Ausstieg in den Steilklippen befinden, über den man zu Fuß wieder die Höhe zum Ausgangspunkt erklimmen kann.

Doch die Info ist falsch. Wie Müller und Meyer mittlerweile – und wieder nur vom Hörensagen – wissen, befindet sich der Ausstieg rechts von der Meeresgrotte, gut einen Kilometer entfernt.

„Wir schwammen im Meer und stellten gleich fest, dass die Wellen mit drei bis vier Metern höher waren, als wir angenommen hatten.” Die beiden Männer schwimmen zweieinhalb Stunden, immer im Kampf mit den Wogen, die sie gegen die Felsen schmettern wollen, an den Klippen entlang. Der Ausstieg ist nicht zu finden. Schließlich taucht eine Felsnase auf. Erschöpft wollen Müller und Meyer auf einen aus dem Wasser ragenden Felsen robben. Doch die Brandung spült die Männer fort, schleudert sie umher. „Da habe ich zum ersten Mal Panik bekommen. Du greifst nach allem, was sich dir bietet und verlierst so schnell den Überblick, wo oben und wo unten ist.” Endlich sind sie auf dem Felsen, erledigt, die Trinkflasche im Rucksack ist ohnehin schon leer. Rasch ist den Männern klar, dass sie die senkrecht aufragenden Klippen nicht erklettern können. Die Handys haben keinen Empfang. Schiffe und Boote sind nicht in Sicht.

Vielleicht ist der rettende Ausstieg ganz nah, gleich um die nächste Ecke? Müller und Meyer springen wieder ins Meer, schwimmen weiter, weiter nach links. Denn durch den Torrent zurückzukehren ist völlig unmöglich. Noch einmal kämpfen sie zwei Stunden gegen die Wellen. Nichts. Am Ende wird ein anderes Felsstück an den Klippen ihre Bleibe. Mit letzter Kraft gelingt es ihnen, sich auf den Stein zu retten.

Christiane Müller-Stammkötter ärgert sich. Keine Spur von ihrem Mann an der Schule. Sie wollten doch mit den Mädchen zur Feier des Schulstarts ein Eis essen gehen?! Er muss den Termin, im Beisein seines Kumpels, völlig verschwitzt haben. Wahrscheinlich hocken die beiden irgendwo beim Bier, denkt Müller-Stammkötter. Und spricht dem Mann Schimpf und Schande auf die Mobilbox, nachdem er wieder und wieder nicht zu erreichen ist.

Andererseits, in Palma geht an jenem Nachmittag starker Regen nieder. Vielleicht haben sie in der Schlucht Probleme damit? Und Handys funktionieren in den Bergen sowieso oft nicht. Noch will sich die Ehefrau keine Sorgen machen. Denn ihr Mann und sein Freund sind erfahrene Bergsteiger.

Erst als auf der Finca die Abenddämmerung anbricht, wächst sich die nagende Unruhe zur quälenden Sorge aus. Christiane Müller-Stammkötter wählt den Notruf 112. Bald hat sie die Beamten von der Ernsthaftigkeit ihrer Befürchtung überzeugt. Rasch ist der Wagen ihres Mannes an der Landstraße bei Lluc festgestellt. Polizei und Bergwacht beginnen mit der Suche, trotz der Dunkelheit. Teams erkunden das Gelände, so gut es geht.

Im Meer versinkt die Sonne. In der Ferne zieht die Fähre vorbei. „Einmal sahen wir ein Boot, winkten und schrien, schwenkten den gelben Rucksack”. Das Boot stoppte den Motor. „Doch dann fuhr es wieder weiter, ohne uns bemerkt zu haben. Da wusste ich, solche Momente verkrafte ich nicht so viele”, erzählt Thomas Müller im Rückblick. Sein Partner uriniert in die Trinkflasche. Für alle Fälle, denn am zweiten Tag mit Durst wird der Körper keine Flüssigkeit mehr ausscheiden können.

Die Nacht auf dem Felsen ist nass, kalt und vor allem laut. Die Wellen brechen sich, immer und immer wieder. Das Geräusch hallt endlos von den Felsen. „Ich bin sicherlich 30-mal aufgewacht. Doch dazwischen habe ich immer wieder tief schlafen können”.

Christiane MüllerStammkötter schläft nicht. Was ist passiert, fragt sie sich und blickt auf ihr Telefon, das nicht klingeln will. Lebt er noch? Was, wenn nicht? Die Kinder weinen. Die Mutter muss stark bleiben.

Dann kommt morgens der Anruf. Es ist die Polizei. Keine Spur von den Männern. Christiane soll den Beamten getragene Wäsche bringen. Für die Spürhunde der Staffel.

Die Ehefrau geht zum Wäschekorb, sucht passende Kleidungsstücke. Riecht daran. Riecht ihren Mann. Ihr kommen die Tränen.
Sobald das Tageslicht es zulässt, startet der Rettungshubschrauber der Bergwacht. Er überfliegt das zerklüftete Gebiet. Tastet Sektor für Sektor die Küste ab. Dann, nach drei Stunden, ist es soweit. Das Rettungsteam entdeckt zwei Männer, die auf einem Felsen im Meer auf und ab springen. Was für Thomas Müller wie ein Kunststück aussieht: Der Pilot fliegt den Helikopter ganz dicht an die Felswand, ein Mann seilt sich ab, im Handumdrehen sind Müller und Meyer an Bord des Flugapparates.

Christiane Müller-Stammkötter befindet sich auf dem Weg von Cas Concos nach Pollença irgendwo in der Inselmitte. Sie ist nicht in der Lage zu fahren. Ein Kollege sitzt am Steuer. Da klingelt ihr Handy. Im Display erkennt sie die Nummer ihres Mannes. Ist er es? Oder die Polizei? Sie nimmt ab. Thomas Müller ist am anderen Ende. „Ich lebe noch”, sagt er zu ihr, „es ist nichts Schlimmes passiert.”

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