Jeden Morgen, zwischen 9 und 11 Uhr, geht es rund in der schlichten Kneipe in Palma. Die Bauarbeiter in ihrer Blaumännern und wattierten Westen zeigen, dass sie so richtig zulangen können. Es ist die Stunde ihrer „Merienda”, ihres Frühstücks, nachdem sie bereits einige Stunden in der Kälte auf den Baustellen gewerkelt haben. Riesige Schinkenbrote mit reichlich Olivenöl werden in den Mund geschoben, Bier schäumt in den Gläsern, Tabaksqualm nebelt die Schaffer ein. Dann kommt die Krönung der morgendlichen Pause: der „carajillo”. Das ist ein schwarzer Kaffee mit Schuss. Whisky, Rum oder anderes Feuerwasser geben den Röstbohnen erst so richtig Schärfe. Ein Fingerhut voll Glut, dann geht es wieder hinaus zur Maloche. Bis zur Mittagspause. Denn nach dem Menü kommt er wieder – der Carajillo. Oder ein Kaffee pur mit anschließendem Kräuterlikör. Als Digestif sozusagen.
In kaum einem anderen Land ist die alkoholische Kaffee-Kultur so verbreitet wie in Spanien – und Mallorca bildet da keine Ausnahme. Trinken hat hier Tradition, vor allem was Hochprozentiges betrifft. Es gibt eine Vielzahl von Destillerien, deren Ursprünge häufig noch im 19. Jahrhundert liegen. Die Bandbreite der Spirituosen ist für eine so kleine Insel größer, als auf dem ersten Blick zu vermuten ist. Neben den heimischen Kräuterlikören wie „Hierbas” (auf Katalanisch „Herbes”) und „Palo” gibt es kräftige Weinbrände, vollständig aus Wein destilliert, die in Spanien „Brandy” genannt werden. Hinzu kommen deftige Branntweine, bei denen der Alkohol auch aus anderen pflanzlichen Produkten wie etwa Wacholder, Anis oder Zuckerrohr gewonnen wird (so beim „Licor de caña”, nicht zu verwechseln mit dem schlichten Glas Bier vom Zapfhahn, ebenfalls „caña” genannt).
Kaum vorstellbar, aber auf Mallorca wird mit „Ron Amazona” sogar Rum gebrannt. Andere Hersteller widmen sich dem „Cazalla”, einem Anisschnaps mit 50 Prozent Alkohol, so klar und transparent wie der Korn der Norddeutschen.
Doch nicht bei allen Getränken geht es gleich in die Vollen. Erst seit wenigen Jahren werden auf der Insel auch lieblichere Liköre auf Mandel- oder Orangenbasis kreiert.
Dem historisch begründeten Einfluss der Briten auf Menorca wiederum ist ein eigener Balearen-Gin zu verdanken. Dieser wird, wenn nicht pur, gerne mit Limonade vermischt und als „Pomada” getrunken. „Hier bei uns sind für den Carajillo am meisten Rum oder Cazalla gefragt”, verrät Pepe, langjähriger Wirt im Coyunda, Palmas 24-Stunden-Restaurant. Alkohol zum Essen, das sei völlig normal, so sei es schon immer gewesen. „Viele bevorzugen statt Nachtisch Kaffee. Und dem Kaffee schießen sie Alkohol zu.” Ausfälle mit Betrunkenen gebe es hingegen keine. „Man trinkt einen Carajillo, mehr nicht.” Die Produktion von Schnaps und Likören ist ein wichtiges Standbein der Lebensmittelindustrie auf den Balearen. Nach Angaben des Agrarministeriums wurden 2007 rund 1'5 Millionen Liter Hierbas produziert, gut 300.000 Liter menorquinischer Gin und mehr als 100.000 Liter Palo. Der Umsatz betrug 13'1 Millionen Euro. Die Regierung fördert die Spirituosenindustrie etwa mit der Vergabe von Gütesiegeln als Herkunftsgarantie. Die vier Logos sind für Kräuterliköre aus Mallorca und Ibiza, Gin aus Menorca und Palo aus Mallorca.
Mallorca ist nicht erst seit „Ballermann 6” eine trinkfreudige Insel. Im 17. und 18. Jahrhundert, so der Historiker Manuel Oliver Moragues, boomte die Schnapsbrennerei. Denn der Branntwein („Aguardiente”) hielt sich besser als Wein und wurde zudem lange nicht besteuert. Die Inselprodukte hatten einen guten Ruf und wurden exportiert nach Europa und Lateinamerika. Landarbeiter erhielten ihren Lohn zum Teil in Schnaps. Die Kalorien sättigten und machten die Arbeit erträglich. Die Schattenseiten waren massive Alkoholismus-Probleme in der Gesellschaft. 1715 stellte ein königlicher Beamter fest: Auf Mallorca ist der Schnapskonsum höher als in jeder anderen spanischen Provinz. Damals wurden mehr als zwei Drittel der Weinproduktion zu Weinbrand destilliert: Das waren immerhin gute 8'6 Millionen Liter.
Die Insulaner waren von ihren Exporterfolgen so besoffen, dass sie immer mehr auf Masse produzierten. Die Qualität ging in den Keller, niemand wollte den Fusel mehr trinken. Zudem überflügelten andere Regionen die Insel. Auf den Rausch folgte der Kater.