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Das Dorf der Küchenchefs

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts waren viele Mallorquiner aus wirtschaftlicher Not gezwungen, ihre Insel zu verlassen. Etliche Emigranten aus S'Arracó machten sich als Restaurantbetreiber in Frankreich einen Namen

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Vor hundert Jahren war S'Arracó ein beschauliches, ruhiges Dorf mit rund 500 Einwohnern. Es hätten mehr sein können, wären sie denn alle im Heimatort geblieben. Doch sie waren ausgewandert, vor allem nach Frankreich, wo viele von ihnen Restaurants eröffneten. Mitglieder der Familie Bosch in Rouen, die Alemanys in Angers.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation in weiten Teilen der Insel viele Mallorquiner gezwungen auszuwandern. Mit am meisten betroffen waren die Bewohner von Andratx und den umliegenden Dörfern. Viele gingen nach Kuba, doch als Spanien 1898 auf die Kolonie in der Karibik verzichten mussten, zogen etliche von ihnen nach Frankreich weiter.

So gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 140 französische Restaurants unter der Leitung von ehemaligen Bewohnern von S'Arracó. Die meisten in nordfranzösischen Orten wie Rouen, Angers oder Caen. Einige wenige auch in Paris.

Das Dorf wurde bald „La Villa de los Chefs“ genannt, „das Dorf der Küchenchefs“. Und so kam es, dass immer mehr Leute aus S'Arracó ihnen folgten, um im Restaurant eines Landsmanns zu arbeiten. Oft wurden Geburtsdaten gefälscht, um die nötigen Ausreisepapiere und Dokumente zu ergattern. Mindestens 14 Jahre alt mussten die „Emigranten“ sein, manche zogen schon mit zehn in die Welt. In den Archiven des Rathauses von Andratx sollen mehr als 1000 Ausreiseanträge lagern.

Nicht alle Auswanderer blieben lang. Manche zogen ein paar Jahre von Restaurant zu Restaurant, um mit 20 wieder zurückzukehren, ihren Militärdienst zu leisten und ein Mädchen aus S'Arracó zu heiraten. Um dann erneut – dieses Mal mit Frau und Familie – zu emigrieren. Mancher der erfolgreichen „Chefs“ eröffnete drei bis vier Lokale nacheinander, was Geld und Ansehen brachte.

Es war von jeher ein Anliegen der Auswanderer, nach „getaner Arbeit“, also nach einigem Erfolg und etwas Geld in der Tasche, nach Hause zurückzukehren. Was für die Heimatdörfer nicht ohne Folgen blieb. Der französische Einschlag ist in S'Arracó und Andratx beim Baustil und in der Küche unübersehbar.

Doch die Gastronomie war nicht die einzige Option für Auswanderer. Sie vermarkteten auch Mallorca-Produkte wie Mandeln oder Zitrusfrüchte. Insofern ähnelte S'Arracó der Stadt Sóller, von wo aus Orangen und Zitronen exportiert wurden. Dort allerdings in größerem Umfang, immerhin hatte Sóller zu jener Zeit etwa 9000 Einwohner und eine riesige Anbaufläche von Zitrusfrüchten auf den Terrassen, die sich die Berge hinaufzogen.

Der touristische Boom in den 1960er Jahren machte dem französischen Abenteuer ein Ende. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kehrten die Auswanderer zurück, im Gepäck nicht nur Geld, sondern auch Wissen.

Wissen um das, was „die Leute wollen”. Denn während sie in Frankreich „kontinental“ kochten, konzentrierten sie sich hier wieder auf mallorquinische Küche. Ein „Frit Mallorquí” in Rouen anzubieten, wäre unmöglich gewesen. Übrigens: Der Gründer der Bar Bosch in Palma war ein Verwandter der „Bar Bosch Restaurant Franco-Espagnol“ in Rouen.

Miquel Ferragut, Nachkomme einer der Auswandererfamilien, hat Fakten und Fotos gesammelt und im Laufe von Jahren archiviert. Er bereitet auch ein Buch über seinen Heimatort vor.

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