Antonio Montolín, von allen nur „Reme” genannt, sitzt auf einem Klappstuhl und bessert statt der Fischernetze heute einmal einen Regenschirm aus. Mit weißem Garn näht der 83-Jährige den abgerissenen Stoff wieder fest. Sein Sohn ist bereits um sechs Uhr morgens mit dem Fischkutter aufs Meer gefahren, spätestens um 17 Uhr wird der Junior mit dem Tagesfang wieder einlaufen und diesen in der Lonja, der lokalen Fischhandelsbörse, feilbieten. Dann strömen die Austräger herbei, die mit der Ware die Restaurants im Ort beliefern. Der Rest des Fangs wird spätestens um 20 Uhr per Kühlwagen nach Palma gebracht.
Fischer „Reme” ist selbst jahrzehntelang sechs, sieben Meilen hinaus aufs Meer getuckert, wo ihm die Meeresfrüchte in Massen ins Netz gingen. „Damals gab es in Port d’Andratx elf mittelgroße Fischerboote, heute sind es nur noch fünf.” Zähle man die kleinen Boote, die traditionellen Llaüts hinzu, würden noch etwa 50 Einheimische zeitweise der Fischerei nachgehen. Aus diesem Grunde prägen noch immer Fischkutter und die blau-weißen Fischernetze das Ortsbild, insbesondere wenn man als Ankömmling den großen Gratis-Parkplatz der Gemeinde verlässt und sich zu Fuß in Richtung Hafenpromenade aufmacht, wo unter Palmen unzählige Restauranttische für Besucher bereitstehen.
Port d’Andratx gilt als einer der Lieblingsorte der Deutschen auf Mallorca, früher kursierte sogar die wenig schmeichelhafte Bezeichnung vom „Düsseldorfer Loch” durch die Medien, weil sich seinerzeit besonders viele Bundesbürger aus Nordrhein-Westfalen mit Zweitwohnsitz niedergelassen hatten und häufig in den dortigen Lokalen anzutreffen waren. Eine Zeit lang war der Fischerhafen im Südwesten der Insel sogar ein Treffpunkt deutscher Prominenz. Das war in den 1990er Jahren und ließ erst nach, als die eigene Privatsphäre immer mehr an Bedeutung gewann, sodass die eigene Bekanntheit nicht mehr live „zum Anfassen” präsentiert, sondern lieber in digitalen Netzwerken hochgeladen wurde.
Wer wissen möchte, wie Port d’Andratx vor dem Tourismus- und Immobilien-Boom ausgesehen hat, der sollte sich den Spielfilm „The Magus” von 1968 mit Michael Caine und Anthony Quinn ansehen (Regie: Guy Green). Darin wird inszeniert, wie die Wehrmacht einen griechischen Küstenort besetzt. Die Aufnahmen entstanden indes in Port d’Andratx.
Oder man besucht das obere Stockwerk der Konditorei „La Consigna”. Die in vierter Generation betriebene Bäckerei bietet neben Kaffee und Kuchen eine Auswahl alter Ortsansichten, die ganz nebenbei die Geschichte des Familienunternehmens wiedergeben.
Erzählen von dem Wandel, wie ihn der Ort durchlaufen hat, das kann auch Baltasar Vera, der mit 81 Jahren einer der langjährigsten Einwohner des Fischerdorfes ist. Vera ist eines jener 15 Geschwister, 13 Brüder, zwei Schwestern, die in Port d’Andratx das Licht der Welt erblickten zu Zeiten, als die Wehrmacht tatsächlich in Griechenland und anderswo einmarschierte. Heute erinnert die Sackgasse „15 Germans” (15 Geschwister) im Ortskern an jene Familie, die Läden und Lokale, das ehemalige Kino, eine Pension sowie das Fischerboot „15 Hermanos” betrieb. „Ich habe die Hügel rings um unser Dorf ohne jede Bebauung gesehen”, sagt Baltasar Vera und räumt ein, dass das Land von den jeweiligen Eigentümern verkauft wurde, als die Nachfrage nach Baugrundstücken in astronomische Höhen schnellte. „Jeder hat eben seinen Preis”, resümiert der betagte Unternehmer und bedauert dies zugleich. „Was da alles gebaut wurde ... Gefallen tut mir das nicht.”
Wer in Port d’Andratx nach Einheimischen Ausschau hält, trifft leicht auf Nachkommen der 15 Veras. Etwa in der Modeboutique Arlequin von Rosita Vera an der Meerespromenade. Sie ist eine Cousine von Baltasar und zieht flugs eine Postkarte von 1920 aus der Schublade ihrer Kasse. Darauf ist eine Ansicht des Fischerortes in Schwarz-Weiß abgebildet. „Sehen Sie selbst”, sagt sie, „damals gab es hier die Kirche und fünf Häuser. Mehr nicht!”
Nur wenige Geschäfte weiter Richtung Meer vertreibt Melanie Behrends seit 14 Jahren Bikini- und Bademoden. Die Münchnerin ist lange genug vor Ort, um den Wandel der jüngeren Zeit beobachten zu können. Etwa wie auf der Promenade die Hohlräume, in denen einst Bäume wuchsen, zubetoniert wurden, statt neue anzupflanzen. Behrends zeigt auf die Schwelle ihrer Eingangstüre: Vom Bürgersteig über den Straßenbelag bis ans Wasser ist die Küstenbehörde zuständig, von der Hauswand landeinwärts das Rathaus. Es ist seit Jahren bekannt, dass die beiden Ämter uneins sind, was die Gestaltung der Hafenpromenade betrifft. Neue Bäume und Grünanlagen? Fehlanzeige. Immerhin ist die Sitzbank vor ihrem Laden, auf der sich viele niederlassen, um aufs Meer zu blicken, erneuert worden, nachdem die alte Sitzgelegenheit weggerostet und dann lange verschwunden war.
Nicht weit entfernt von dem Laden ist Holger Becker als Tauchlehrer beim Dienstleister „Diving Dragonera” angestellt. Der Deutsche lebt seit 2004 auf der Insel und kann ein Lied davon singen, wie die Bestimmungen im Hafen von Andratx im Vergleich zu früher immer strenger ausgelegt werden, etwa was das Festmachen der Boote angeht. Andererseits sieht Becker auch Verbesserungen. Seit die Gewässer um Dragonera geschützt sind, habe sich der Fischbestand dort enorm erholt.
Die Läden von Rosita Vera und Melanie Behrends sowie die Tauchschule befinden sich in traditionellen Dorfhäusern, wie sie einst von den Fischern bewohnt wurden, bevor sich betuchte Palmesaner nach und nach Sommersitze an dem winzigen Strand oder oberhalb der Felsen zulegten. Der frühere Dorf-Figaro und seit 30 Jahren passionierte Lokalredakteur Evarista Miguel Tur, den alle nur als „Michels” kennen, wartet zu jedem Gebäude mit unzähligen Anekdoten auf: So ist zu erfahren, dass die heutige Cocktailbar „Tim’s”, (ein Drittel des bei Partygängern beliebten Bermuda-Dreiecks aus „Mitj & Mitj” und „Curry & Style”) einst ein Konvent war, in dem Nonnen lebten und Kindern lesen, schreiben und den Rosenkranz beibrachten. Die Bar „Can Pep” wiederum war einst die Tankstelle des Ports, und das heutige Fünf-Sterne-Hotel „Villa Italia”, am Ende des Dorfkerns gelegen, war das Wohnhaus des Italieners Aquiles de Vita, lange Zeit auch Präsident des Segelclubs im Hafen.
Die Villa Reus nebenan ist die älteste Sommerresidenz in den Hügeln rund um Port d’Andratx. Errichtet 1917, dient sie dem Arzt Guillermo Palmer aus Palma und seinen Nachkommen bis heute als gediegenes Anwesen. „Die Fischerstatue im Garten der Neuzugezogenen aus der Großstadt war damals vermutlich ein Stachel im Fleisch der Dorfjugend”, erzählt Michels. „Sie bewarfen sie mit Steinen, dabei brach die Nase ab.”
Der Hügel oberhalb der Villen ist das einzige Gebiet, das noch als freies Baugelände ausgewiesen ist, mit Platz für 34 Villen, sagt Sebastian Rusch, Juniorchef des Immobilienunternehmens „Rusch & Partner”, das seit 2003 in der Hafengemeinde aktiv ist. Ansonsten seien rund um Port d’Andratx so gut wie keine Baugrundstücke mehr vorhanden. Die ungebrochene Nachfrage mache sich an den Preisen bemerkbar. Neubauwohnungen im Dorfkern starten bei einer Million Euro, der Preis für eine Altbau-Villa in den Hügeln beginnt bei fünf, für eine Neubauvilla bei neun Millionen Euro. Sebastian Rusch sieht den Hafenort auf einem guten Weg: Bis auf La Mola seien alle anderen Urbanisationen mittlerweile mit Ent- und Versorgungsleitungen erschlossen. Im Hafen können seit dem Bau eines neues Steges jetzt zudem Yachten bis 50 Meter Länge festmachen, vorher waren es lediglich 30-Meter-Boote. „Es sind diesen Sommer gefühlt viel mehr Yachten eingelaufen als sonst.”
Und seit in diesem Sommer die ORA-Parkplatzgebühr eingeführt wurde, sind im Ortskern auch wieder Stellplätze zu finden. Der Grund: „Handwerker und Arbeitnehmer, die ganztägig beschäftigt sind, parken nun auswärts auf den Gratisplätzen.”
So sind mit Glück hier und da Parklücken zu entdecken für Besucher, die abends zum Essen auf der Promenade auflaufen. Während die untergehende Sonne den Himmel in romantischsten Farben aufglühen lässt, die Hügel im Dunkel der „Blauen Stunde” entschwinden – bis auf die vielen Lichtpunkte der dortigen Immobilien – und das Meer sich allmählich versilbert, flanieren Herren in gebügelten Bermuda-Shorts sowie langbeinige Damen in sommerlichen Glitzerkleidchen von Lokal zu Lokal, um sich an eigens reservierten Tischen zu Gambas und Rosado niederzulassen. Das ist der magische Moment im Hafen. Oder, wie es Sebastian Rusch sagt: „Für mich ist Port d’Andratx der schönste Hafen der Insel.”
(aus MM 36/2019)