Es ist 19 Uhr an einem Montagabend in Palmas Casal S’Escorxador. Kaum haben die Teilnehmer des Pilateskurses ihre Matten weggerollt, füllt sich der große Raum mit der nächsten Gruppe. Diese möchte den beliebten Traditionstanz, den Ball de Bot, von der Pike auf lernen.
Ein kleiner, drahtiger Mann betritt den Raum. Sogar beim Gehen tänzelt er ein wenig. Später beim Tanzen steigert er dies noch, wenn er wie ein lebender „Flummi” durch die Luft wirbelt. Toni Manuel Ortega liebt den Ball de Bot, den „Hüpftanz”. Seit 27 Jahren unterrichtet er die Schritte des ursprünglich matriarchalischen Balztanzes.
„Die Frauen geben die Schritte vor”, erzählt er. Wobei es keinen Unterschied zwischen Frauen- und Männertanzschritten gebe. Der Ball de Bot ist der Überbegriff für verschiedene Tanztypen. Dazu gehören der Fandango mallorquín und menorquín, der „Jota”, Bolero und der Mateixa. Der Jota zum Beispiel ist besonders flink, die Beine fliegen fast ähnlich dem Schuhplattler durch die Luft. Man tanzt ihn normalerweise als Paar, mit erhobenen Armen und Kastagnetten als Begleitung. In Valencia wurde dieser schnelle Tanz sogar bei Beerdigungen aufgeführt. Der Bolero ist dagegen etwas getragener. Arabische Einflüsse spiegeln sich in den Trachten und der Musik wider, die aus Trommel, Dudelsack, Gitarre, Tamburin und Flöte besteht. Auch Fingerschnipsen und Kastagnetten gehören dazu. Lediglich die Mateixes, was übersetzt „Dieselben” bedeutet, sind ausschließlich balearische Tänze. Bei diesem Rundtanz kehrt man am Anfang und Ende zur gleichen Frau zurück – daher der Name.
Die über 30 Frauen und Männer, die sich inzwischen bei Musik vom Band mit Toni eintanzen, sind Anfänger. Seit gut drei Monaten üben sie kleine Pirouetten, grazil elegante Armhaltung und vor allem den Grundschritt, mit dem man schon allerhand machen kann. Tonis Arme sind elegant erhoben. „Beim Ball de Bot, der aus der Bolero-Tradition stammt, ist die Körperhaltung entsprechend gestreckt”, sagt er.
Alejandro Sánchez, seine Frau Jenny Montanet, die Tochter Angela sowie Cousine Laura haben sich direkt im „Familien-Pack” angemeldet und sind begeistert. „Wir hatten schon lange Lust, den Tanz zu lernen. Auf Festen, auf denen getanzt wurde, dachten wir immer: Wir sind Mallorquiner und können nicht mittanzen.” Das wollte die Familie ändern und meldete sich bei Toni an. Sogar auf den ersten Dorffesten konnten sie ihre erlernten Schritte schon austesten. „Es ist super”, sagt die dunkelblonde Laura. Sie hat sich sogar schon die typische Tracht der Payesa, der Bäuerin, besorgt. Die Tracht der Männer besteht aus Pluderhosen, lockeren Hemden und einem piratenähnlichen Kopftuch. Die Landbevölkerung Mallorcas war arm. Man schneiderte sich sein Tanzkleid aus dem, was man hatte. Getanzt wurde oft nach der Ernte. Die Dorffeste waren eine willkommene Abwechslung zum harten Alltag.
Alejandro Sánchez gibt zu, sich nicht zu den geborenen Tanztalenten zu zählen. Aber bei diesem Tanz, vor allem auf den Plaças, spiele das keine Rolle. „Jeder tanzt so gut er kann, das ist keinem peinlich.” Genau das sei das Zentrale beim Ball de Bot, bestätigt auch Lehrer Toni.„Wer sich präsentieren möchte, ist beim Ball de Bot falsch”, sagt der Mallorquiner. „Man tanzt auf den Plätzen, um Spaß zu haben.”
Toni hat inzwischen einen neuen Schritt erklärt. Damit er sich gut ins Bewegungsgedächtnis einschleift, wiederholt er ihn mehrere Male hintereinander. „Und drehen und rechts und links”, ruft er gegen die Musik an. Arme wirbeln durch die Luft, jeder imitiert so gut er kann die Schritte. Zwischendurch gibt es eine kleine Verschnaufspause, wenn sich alle im Kreis aufstellen und die bekannten Schritte etwas gemächlicher wiederholen.
Während der 35-jährigen Diktatur unter Francisco Franco waren regionale Musik und Tanz verboten. Francos Ziel war es, ein einheitliches und nationalistisches Land zu schaffen. Die bunten, regional unterschiedlichen Tänze mit ihrer Musik passten nicht in sein Spanienbild. Nach seinem Tod 1975 „erholten” sich regionale Strömungen in Kunst und Musik langsam wieder. „In dieser Zeit wurde der Folkloretanz auf Mallorca vor allem für Touristen getanzt. Dieser Brauch schlief ein und mit ihm auch ein wenig die Tradition”, erzählt Ortega zwischen zwei Liedern. Seit einigen Jahren feiert der Tanz unter Einheimischen ein Revival.
Die Menschen, die hier im Kurs Ball de Bot tanzen lernen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Zusammensetzung der Gruppe bedient keine Klischees. Vom gepiercten Hipstermann mit Vollbart über die jungen Frauen der Familie Sánchez bis zu Männern und Frauen jenseits der 50 findet sich hier alles.
Die einzelnen Bewegungen haben tiefergehende Bedeutungen. So bedeutet der Tanzschritt des Rückenzuwendens, dass man einen Kuss „rauben” möchte. Die Bewegung „abrir y cerrar”, das Öffnen und Schließen der Arme bei leichtem in die Hocke gehen, verfolgt ganz banale Flirtabsichten. Beim Wiederaufrichten versuchten die Männer, den Rock der Frau zu lupfen, um einen Blick auf die Beine zu erhaschen. Beim Sprung, dem „Bot”, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sich die Oberkörper berühren. Der Countdown geschieht bei dem Abschlusstanz, der „Bullanguera”, was nicht mit dem Tanz der Balanguera und der mallorquinischen Hymne zu verwechseln ist. Bei der Bullanguera geht es darum, sich die „beste” Frau zu schnappen oder einem Mitstreiter die Partnerin auszuspannen. Am Ende bleibt nur ein Paar übrig. Hier wird es zuweilen hitzig-wirbelig.
Auch Toni stehen bereits nach 30 Minuten die Schweißperlen auf der Stirn. „Das ist pures Herz-Kreislauf-Training”, sagt er lachend. Ihn erwarten an diesem Abend nach diesem Anfängerkurs noch zwei weitere Gruppen. Gleich ist es 20 Uhr. Die nächsten Tanzwilligen warten schon.
(aus MM 5/2020)