Formentera war schon immer eher die „Chill Out Area” unter den Baleareninseln. Während auf Mallorca und Ibiza knallharte David-Guetta-Sounds oder dröhnende Schlager-Partyhits den abendlichen Soundtrack zum Sonnenuntergang lieferten, warb die kleinste der vier Urlaubsinseln noch mit sanftem Meeresrauschen zum Sundowner. Daran hat sich auch zu Coronazeiten nichts geändert, nur ist das Meeresrauschen irgendwie lauter geworden und die Insel noch leiser.
Leer gefegte Promenaden, nicht einmal Fußabdrücke sind im feinen Sand zu sehen und sogar am schönsten Strand des Landes, an der Platja de Ses Illetes, ist man in diesen Tagen ganz allein. Wer jetzt nach Formentera reist, erlebt ein stilles Paradies, doch die Einsamkeit hat ihren Preis: „Hier hat fast alles geschlossen”, sagt Luca, während er den Schlüssel für Zimmer Nummer 5 aus einer Schublade kramt: „Nicht einmal zehn Prozent der Hotels haben geöffnet. Es lohnt sich einfach nicht.”
Die Hauptstadt Sant Francesc de Formentera
ist zurzeit wie leer gefegt. Foto Mirja Helms
Der junge Italiener arbeitet an der Rezeption eines kleinen Bed & Breakfast im beliebten und sonst auch sehr belebten Urlaubsort Es Pujols im Norden der Insel. Nur zehn Prozent haben geöffnet, das heißt 90 von 100 Unterkünften haben geschlossen. Auch die meisten Nachbarhotels sind zu, Fenster und Türen mit Zeitungspapier verklebt. Wie auch auf den anderen Baleareninseln ist der Tourismus auf Formentera in diesem Sommer um knapp 80 Prozent gesunken, die Zahl der Arbeitslosen um 141,5 Prozent gestiegen.
Luca gehört zu den glücklicheren Inselbewohnern, das Geschäft im Hotel läuft, ohne Konkurrenz sind die Zimmer zumindest an den Wochenenden beinahe immer belegt. Beinahe. An diesem Freitagabend ist es Sturmtief „Alex”, das zusätzlich für leere Betten, Bars und Restaurants sorgt. Da Formentera keinen eigenen Flughafen hat, erreichen Touristen die Mini-Insel nur mit dem eigenen Boot oder mit der Fähre, doch auch die kann bei kräftigem Wind und fünf Meter hohen Wellen nicht übersetzen.
Später am Abend ist das stürmische Wetter auch auf der Insel nicht mehr zu ignorieren. Das Meer peitscht an die Promenade, Palmen liegen waagerecht im Wind und in Zimmer 5 herrscht Stromausfall. Luca ist sofort zur Stelle, zögert nicht lange und bietet seinen Gästen ein Upgrade –- Zimmer 7 bliebe ja nun eh leer. Überhaupt ist der Gastgeber auffällig bemüht, hat nicht nur jede Menge Empfehlungen parat für Leihfahrräder, Sonnenuntergangs-Hotspots und romantische Restaurants in der Nähe, er reserviert auch einen Tisch und bestellt darüber hinaus das Taxi.
Am nächsten Morgen hat sich „Alex” wieder beruhigt, es herrscht ideales Ausflugswetter. Formentera ist gerade mal 19 Kilometer lang, die meisten Urlauber erkunden die Insel mit dem Fahrrad oder Roller. Letzterer kostet knapp 30 Euro für 24 Stunden, in normalen Jahren. Jetzt ist Coronazeit und die Rechnung für zwei Fahrräder am ersten Tag und einen Roller am zweiten beläuft sich auf insgesamt 36 Euro.
Überhaupt kann sich in diesem Jahr niemand über die Preise beschweren, außer die Geschäftstreibenden selbst. Mit dem Residentenrabatt kostet der Flug von Palma nach Ibiza neun Euro, die Fähre von Ibiza nach Formentera 4,65 Euro und das Zimmer im Bed & Breakfast schlägt mit 45 Euro pro Nacht zu Buche, plus fünf Euro Touristensteuer. Ein Wochenende auf Formentera für nicht einmal 150 Euro – so viel kostet normalerweise ein günstiges Doppelzimmer, ohne Frühstück. Für eine Nacht. Sogar die Zufahrt zum Naturschutzgebiet ist jetzt gratis, das Parken auch.
Samstagvormittag und nur eine Handvoll Menschen spaziert bei kräftigen Windböen über die naturbelassene hauchdünne Landzunge im Norden. Von beiden Seiten umrahmt das Meer den feinen Sand, das Wasser sieht aus, als hätte jemand ordentlich am Regler der Farbsättigung gedreht. Kein Wunder, dass dieser Strand schon zum schönsten in ganz Europa gekürt wurde. In anderen Jahren reißen sich die Menschen darum, im Oktober ein Bild von der menschenleeren Platja de Ses Illetes zu bekommen, heute traut sich kaum jemand, die Einsamkeit zu fotografieren.
So leer wie hier sind die Strände auf Formentera
sonst nur in der Nebensaison. Foto Mirja Helms
Auch der kilometerlange Strand Es Migjorn ist wie leer gefegt, die malerische Bucht Cala Saona, in der sonst im Spätsommer zahlreiche Yachten wie Stecknadeln auf einer Pinnwand vor dem Ufer liegen, wirkt wie gerade erst entdeckt. Und sogar in der Hauptstadt Sant Francesc de Formentera haben Boutiquen, Restaurants und Supermärkte geschlossen.
Es fällt schwer, die Ruhe und den Platz zu genießen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben, stehen bei jedem fehlenden Urlauber doch wieder Existenzen auf dem Spiel. Wer es dennoch schafft, einen Moment nicht daran zu denken, der erlebt auf Formentera einen Urlaub, wie man ihn sich in anderen Jahren heimlich gewünscht hat. Im Restaurant ist immer noch ein Tisch frei, in der Eisdiele ist die Lieblingssorte niemals ausverkauft und Strandkleider, Hüte und Souvenirs gibt es zum Sonderpreis.
Der Leuchtturm am Cap de Barbaria ist in diesen Tagen
nur selten Fotomotiv. Foto: Mirja Helms
Stundenlang kann man den Leuchtturm am Cap de Barbaria, am Südzipfel der Insel, aus allen Perspektiven fotografieren, ohne dass jemand warten muss, und an der Höhle gleich neben dem Faro steht niemand an, es ist sogar genügend Zeit für ein kleines Picknick direkt an der Klippe. Und um den Moment perfekt zu machen, fängt im Hintergrund ein Mann im Hippie-Look an, sanfte Musik zu spielen. So fühlt sich eine einsame Insel also an: unwirklich schön. Und schmerzhaft einsam.
(aus MM 41/2020)