Es ist, als müsste er vor irgend etwas fliehen. Der Busfahrer – er will seinen Namen nicht nennen, könnte aber Manolo, Jaume oder Paco oder Pepe heißen – huscht an der Endstation mit gebügeltem Arbeitshemd und Sonnenbrille von seinem Gefährt in eine Toilette. Dem MM-Reporter gegenüber gibt er sich mundfaul, er schaut weder nach rechts noch nach links.
Zu viel zu sehen wäre auch alles andere als erbaulich, denn der Mitarbeiter des städtischen Busbetriebs EMT hält sich in Son Gotleu auf, Palmas wohl hässlichstem Viertel, wenn man die Drogensiedlung Son Banya außer Acht lässt. Die nächste Tour geht mit der Linie 7 nach Son Vida, dem edelsten Wohnareal der Balearen-Kapitale – von der Unter- in eine Art Astralwelt, von unten auf den fast über den Wolken befindlichen Hügel der Reichen und sicher auch Schönen mit den Golfplätzen und den zwei Hotels Arabella Sheraton und Castillo.
Unten in Son Gotleu stinkt es derweil zum Himmel. An der Plaça Fra Joan Alçina sind fast alle Mülltonnen offen, überall liegen Plastikobjekte und andere Hinterlassenschaften herum. Einige zum Teil verschlagen-aggressiv dreinblickende Gestalten bewegen sich fast schleichend auf den Bürgersteigen. Andere Passanten sehen so aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun – es sind Schüler, Jugendliche, laute Kinder, pausbäckige Hausfrauen, Rentner, Einwanderer. Mehrere sind dick, andere nicht alt und dennoch gebrechlich. Einigen fehlen die Vorderzähne. Marihuana-Geruch überdeckt den beißenden Gestank aus Müll, irgendwelchem angebrannten Essen, Erbrochenem und Tierexkrementen.
Dass sich der EMT-Beschäftigte hier unwohl fühlt, sieht man ihm auch auf seinem Chauffeursitz an. Den hat er nun eingenommen, um seine Tour zu starten: Der Bus der Linie 7 beginnt eine der längsten Routen der Stadt, es ist die mit den bei weitem größten sozialen Gegensätzen. Geschlagene 35 Haltestellen sind zu bewältigen, mehr als eine Dreiviertelstunde.
Als am Alçina-Platz mehrere Einwohner mit ungültiger Bürgerkarte einsteigen, winkt der Fahrer sie durch. „Pasen”, sagt er etwas genervt, „geht durch”. Er will weg aus dem Viertel voller verfallender Hochhäuser, aus deren Fenstern teils löchrige Wäsche hängt. Als es losgeht, verschwindet das von vielen sozial Schwachen und Migranten bewohnte Problem- areal schnell im Off. Hier nahe der Ringautobahn und unweit vom Stadion von Atlético Baleares war es in den vergangenen Jahren immer mal wieder zu Gewalt gekommen. Es bekriegten sich Afrikaner und „Gitanos”, vom Drogenhandel leben in dieser Gegend einige, mit Samthandschuhen fasst man sich hier seit Jahrzehnten nicht an.
Zunächst geht es im Bus Richtung Plaça d’Espanya, dem neuralgischen Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Hier kommen so ziemlich alle Buslinien von Palma zusammen. Doch bevor man den Platz erreicht, sind noch einige Viertel zu durchqueren. An der Carretera de Manacor, der östlichen Einfallstraße angekommen, fühlt man sich schon erheblich sicherer als in Son Gotleu. Zwar stehen nahe der Rosales-Bingohalle und unweit des Krekovic-Parks ebenfalls wenig ansprechende Wohnblocks, doch die sind besser in Schuss als die Gebäude am Alçina-Platz, die einem Hollywood-Film über wilde und graue Endzeit-Fantasien alle Ehre machen würden.
Mehrere Menschen, die den Bus in Son Gotleu bestiegen hatten, lassen ihn noch vor der Plaça d’Espanya wieder hinter sich. Bürger wie Leydi, ihres Zeichens Einwanderin aus Kolumbien. Mit einem großen rollenden Einkaufskorb bewehrt, sagt sie: „In Son Gotleu gibt es keine anständigen Supermärkte, deswegen muss ich den Bus benutzen.” Neben ihr steht eine Afrikanerin, die auf ihrem Handy Auftritte von eingeseiften Tänzern betrachtet. An der Plaça d’Espanya angekommen, verlassen weitere Passagiere das Gefährt, andere, sichtlich besser angezogene, steigen ein.
Nach etwa 20 Minuten liegt Palmas Schmuddelecke hinter dem Bus, auf dem Innenstadtring Avenidas, der Rambla und der Prachtmeile Jaume III. geht es anderen Vororten entgegen. Der Fahrer wirkt sichtlich entspannter. Mit lässig nach oben geschobener Sonnenbrille schaut er auf die Straße und nimmt die Kurven mit einem fast schnittigen Drive. Im properen Son Rapinya, wo Mittelständler in ansprechenden Wohnhäusern leben, steigen Schüler in Uniformen ein. Und auch Französisch oder Englisch sprechende Mütter. Mütter wie Françoise. „Ich will zur La-Salle-Schule”, sagt sie. Die Bildungseinrichtung befindet sich hinter der Ringautobahn neben dem allseits bekannten Trui-Theater.
Und dann erhebt sich unverhofft vor den Augen des MM-Emissärs einem Thron gleich der Hügel der Villenbesitzer, Son Vida! Das Licht der schrägstehenden Sonne macht das Grün der Golfplätze noch eindringlicher. Kaum jemand ist auf der Straße, die Vögel zwitschern, der Bus ist leer. Fährt ein Porsche auf eines der Gelände, öffnet und schließt sich das Gattertor schnell und fast lautlos. Das Viertel der Wohlhabenden, wo einst der inzwischen verstorbene deutsche FDP-Außenminister Guido Westerwelle ein schmuckes Domizil sein Eigen nannte, liegt irgendwie erstarrt da.
Vom Grün der Golfplätze fast geblendet, dreht der Verfasser schlendernd seine Runden. Etwa eine halbe Stunde nach der Ankunft rauscht von hinten ein Bus an ihn heran und bremst hörbar. Die Tür öffnet sich auf offener Strecke, Hunderte Meter von der nächsten Haltestelle entfernt. „Willste einsteigen?”, fragt der Fahrer. Es ist derselbe von der Hinfahrt. Er könnte Manolo, Paco, Jaume oder Pepe heißen. Es geht wieder nach Son Gotleu.