Es ist ein Ort, den ganz viele aus dem Flugzeug heraus gesehen haben dürften, den aber in der Regel kaum einer kennenlernt. Das Flughafendorf Sant Jordi, das sich auf einem kleinen Hügel einer feuchten Tiefebene befindet, springt einem ein bis zwei Minuten vor dem Aufsetzen ins Auge, wenn man von Nordosten aus landet und links sitzt. Befindet man sich wie der MM-Autor in einem Bus der Linie 14, empfiehlt es sich, sich vorne aufzuhalten. Dann macht der Ort, wie er langsam inmitten einer üppig-grünen Landschaft heranrückt, einen fast erhabenen Eindruck.
Der am Anfang der Fahrt an der Plaça d’Espanya und auf der Manacor-Ausfallstraße noch recht volle Bus hat sich vor allem im bürgerlich-rustikalen Vorort Son Ferriol, in welchem es allein vier Haltestellen gibt, geleert. Vor allem dem Mittelstand angehörende Hausfrauen und Schüler bevölkerten das Gefährt.
Jetzt neben Mühlenruinen sitzt nur hier und dort im Bus jemand. Eine ältere Frau röhrt bereits seit mindestens einer halben Stunde auf Katalanisch gutturale Laute in ihr Handy. Immer wieder ist der Name Tomeu zu hören, laut und lang gezogen: „Tomeeeu...”. Ein älterer Mann versucht derweil, mit einer ihm gegenüber sitzenden jungen Frau ein Gespräch anzufangen. Durchaus mit Schmackes tritt der Fahrer des 35 bis 40 Minuten zuvor gestarteten Busses aufs Gaspedal, als er den bescheidenen Weiler Sa Casa Blanca mit dem linkerhand liegenden kleinen Kirchlein hinter sich lässt. Es fallen die Mühlenruinen auf, die sich überall befinden. Sie rauschen an einem irgendwie befremdlich vorbei.
Es ist mit Abstand der Ort mit der größten Dichte dieser Bauwerke auf der Insel. Diese trugen im 19. Jahrhundert nicht nur dazu bei, das damalige Sumpfgebiet trockenzulegen, indirekt konnte man auch der ehedem auf der Insel vorkommenden Malaria beikommen.
Die technischen Raffinessen zu dem Trockenlegungsplan stammten nicht von der Insel selbst, sondern der holländische Ingenieur Paul Bouvy Scharenberg und der französische Geologe Paul Vernière boten die Konstruktionen en gros samt einem ausgeklügelten Kanalisationssystem zur Entwässerung an. Am 25. Februar 1847 nahmen die ersten Pumpen ihren Betrieb auf, weitere folgten und bald schon konnten auf den Flächen unter anderem Gemüse und Weizen gedeihen.
Jetzt sind da fast nur noch diese Ruinen, insgesamt sind es mehrere Hundert. Wie skelettierte Finger ragen sie mitunter in den Himmel. Sant Jordi, das Hügeldorf, wird immer größer, die in einen flauschigen Wintermantel gehüllte Frau redet noch immer ohne Punkt und Komma in ihr Handy. „Tomeeeuuu”, ruft sie ein ums andere Mal.
Unterbrochen wird das Vorbeirauschen der Ruinen durch Flugzeuge, die niedrig in kurzen Abständen heranrauschen. Bewegt man seinen Kopf nach rechts, sieht man den enorm großen Flughafen, hinter dem Kontrollturm sind schemenhaft einige allseits bekannte Apartmenthochhäuser an der Playa de Palma zu erkennen.
Und dann liegt Sant Jordi auf einmal ganz groß da. Alles ist still, die Zentralkirche an der Plaça Monteros wirkt für den kleinen Ort durchaus imposant. Die Handyfrau kräht ein letztes Mal „Tomeeeu...” Der Busfahrer parkt an der einzigen Haltestelle und stellt den Motor ab. Es gibt ein kleines Restaurant, einen Laden. Die Wohngebäude machen mit ihren schmiedeeisernen Balkongittern den Eindruck, als hätten hier früher nicht die Ärmsten gewohnt.
Allein in der zweiten Maihälfte ist in Sant Jordi mehr los: Dann steigt hier die Schneckenmesse. Vor allem die von Kindern abgöttisch geliebten Rennen der langsamen Kreaturen haben sich in das kollektive Inselgedächtnis eingebrannt.