Es könnte durchaus die erste Szene eines Hollywood-Kampfsport-Filmes der 1990er-Jahre sein: Ein junger Mann durchstöbert die Regale im Buchladen seiner Eltern, als er im hintersten Winkel ein altes, verstaubtes Buch entdeckt. Darin findet der 17-Jährige fremdartige Zeichen, Symbole und Bilder alter asiatischer Kampftechniken, die augenblicklich eine derartige Faszination auf ihn auslösen, dass er sein Leben fortan dem Erlernen dieser Techniken verschreibt.
Der junge Mann, dessen Kampfsport-Geschichte wirklich so begonnen hat, ist heute, mit 46 Jahren, ein „Shifu”, ein Meister in den Kampfkünsten Kung-Fu, Qigong und Taichi. Seiner Leidenschaft für die alten chinesischen Techniken geht Miquel Rotger mittlerweile seit 27 Jahren nach. Seit neun Jahren hat er in Palma sein eigenes „Wu Guan”, was man zu Deutsch vielleicht mit „heiliger Kampfsport-Halle” übersetzen könnte. Viele der Begriffe, mit denen Rotger seine Kunst erklärt, sind schwer aus dem Chinesischen in eine andere Sprache zu übersetzen. „Man kann sagen, dass wir hier ‚Wushu’ lehren. Das ist das chinesische Wort für Kampfkunst und schließt viele verschiedene Stile mit ein.”, erklärt der gebürtige Menorquiner. Die drei Varianten, die er unterrichte, seien eng miteinander verflochten. All diese Kampfkünste würden Körper, Geist und Seele gleichermaßen trainieren. Nur eben auf unterschiedliche Art und Weise.
Das aus der traditionellen chinesischen Medizin stammende „Qigong” hilft den Schülern dabei „Qi”, also Lebensenergie in sich zu erzeugen, zu kräftigen und zu vermehren. „Die Arbeit bei dieser Technik besteht zumeist aus Meditation, Atemübungen sowie vereinzelten sich wiederholenden Bewegungen.” Den zweiten Stil, den Rotger unterrichtet, das „Taichi”, fällt schon deutlich mehr unter die Kategorie Kampfkunst. „Auf das Wesentliche reduziert, ist es das Kultivieren der perfekten Bewegung im Einklang zwischen Körper und Geist.”
Miquel Rotger steht von seinem Stuhl auf und stellt sich neben seine Frau Eva. Er hält die Hand vor den Unterbauch, lässt sie in fließenden Bewegungen darüber kreisen und erklärt: „Hier sitzt unser „Qi” unser Energiedepot. Hier ist unsere Kraft gespeichert.” Er begeht einen letzten Halbkreis vor der Stelle auf Höhe des Bauchnabels und bittet seine Frau anschließend, ihn anzugreifen. Während diese versucht, ihn auf die Schulter zu schlagen, blockt er ihren Angriff mit der vorher demonstrierten Halbkreisbewegung schwungvoll ab. Er erklärt: „Die Bewegung kommt aus dem Energiedepot. Siehst du? Mein ganzer Körper ist Teil der Bewegung, nicht nur mein Arm. Deshalb ist die Verteidigung auch so kraftvoll. Taichi hilft dir dabei, diese innere Stärke nach Außen zu bringen.”
Kung-Fu als dritter Teil von Rotgers Schule der Kampfkünste Wutan Mallorca beschäftigt sich dann im Besonderen mit der Selbstverteidigung. Allerdings ist auch Kung-Fu viel mehr als nur ein Kampfsport. „Es ist eine Philosophie, eine Lebenseinstellung, und hat wenig damit zu tun, was man aus den alten Filmen kennt.” Es sei der Weg zu einem starken, gesunden Körper und einem ausgeglichenen, fitten Geist. „Mein Meister hat die drei Techniken immer als dreibeinigen Stuhl bezeichnet”, lacht der Kampfsportler, der nach Möglichkeit jedes Jahr einmal seinen „Shifu” in China besucht und ergänzt: „Das erste Bein ist das körperliche Training, das zweite Bein ist die Energiearbeit und das dritte Bein symbolisiert die Anwendbarkeit des erlernten im echten Leben.”
Die Schüler, die in seinem „Wu Guan” trainieren, sind ebenso international wie Mallorca. „Ich kann gar nicht genau sagen, wie viele Nationen es sind, die bei uns üben. Eine ganze Menge auf jeden Fall. Jeder ist willkommen.” Die jüngsten Schüler seien zwischen vier und fünf und die ältesten mehr als 80 Jahre alt.
Für das Weitergeben der alten Techniken veranschlagt der Meister von jedem seiner Schüler 50 Euro im Monat. Dafür können dann allerdings sämtliche Klassen und Unterrichtsstunden besucht werden. Angeleitet werden die Schüler in Spanisch. Bei Schwierigkeiten kann Rotger aber auch auf Englisch weiterhelfen. Eine Unterrichtseinheit dauert 75 Minuten und besteht zumeist aus Aufwärmen, Technik-Übungen und, je nachdem welcher Stil unterrichtet wird, dem Zweikampf. „Jeder Schüler soll hier die Möglichkeit haben, seine Ziele zu verfolgen. Manche kommen wegen der Meditation sowie den Atemtechniken, andere wollen Kämpfen lernen.” Jeder solle sich seine eigenen Ziele stecken. Am Ende gehe es immer um das Gleiche: „Wir wollen die Ausgeglichenheit des Körpers, des Geistes und der Seele herstellen. Wer anfängt diesen Pfad zu beschreiten, wird schon nach wenigen Monaten feststellen, dass dieser Weg das Potenzial hat ein ganzes Leben zu verändern.