Plötzlich raschelt es zwischen den moosbewachsenen Flusskieseln: eine Schlange sucht schreckhaft das Weite. Die Eichenbäume am Ufer sind über und über mit Efeu bewachsen, Brombeeren lassen ihre dornigen Ranken in die Tiefe hängen und das Schilf wiegt sich leise raschelnd im Wind. Hier und dort hat sich etwas Regenwasser in steinernen Becken gesammelt. Schmetterlinge tänzeln im Sonnenlicht. Abgesehen von den Geräuschen der Natur herrscht absolute Stille im Torrent de Sant Miquel in Campanet. Es handelt sich um einen der offiziell 79 Sturzbäche, die der Regen im Laufe von Jahrmillionen in das kalkreiche, besonders weiche Gestein der Insel gegraben hat.
Die meiste Zeit des Jahres liegen sie vollkommen ausgetrocknet da. Es gibt keine ganzjährig wasserführenden, natürlichen Oberflächengewässer auf der Insel. Wenn es regnet, verwandeln sich die Torrentes aber innerhalb kürzester Zeit in reißende Ströme. Dann schießt das Wasser nur so in die Tiefe, in Richtung Meer. Immer wieder fallen dem auch Menschen zum Opfer. Im Herbst 2018 etwa kamen im Inselosten 13 Personen ums Leben, als der Torrent de ses Planes die Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnte und es zu schweren Überschwemmungen kam. Da heftige Unwetter wegen des Klimawandels immer häufiger werden, geraten die Sturzbäche zunehmend ins Visier.
„Das größte natürliche Risiko auf der Insel sind Torrentes, die über die Ufer treten”, sagt Joan Estrany. Es handele sich um das Naturphänomen, das in der Vergangenheit die meisten Todesopfer gefordert habe. „In der Gegenwart ist das nicht anders”, sagt Estrany, der Geograf an der Balearen-Universität und Experte für Naturkatastrophen ist. Außerdem leitet er das Katastrophen-Observatorium Riscbal. Dieses verfügt über ein Netz von rund 100 Messstationen, mit deren Hilfe unter anderem Überschwemmungen vorhergesagt werden können. Etwas mehr als die Hälfte befinden sich in Sturzbächen und liefern Daten über die dortigen Pegelstände.
„Mallorca hat ein geradezu alpines Relief”, sagt Estrany. Schließlich ragen im Tramuntana-Gebirge zahlreiche Gipfel mehr als 1000 Meter in die Höhe. „Eine Besonderheit ist die geringe Entfernung bis zum Meer”, erklärt Estrany. „Das führt dazu, dass das Gefälle extrem ist.” Entsprechend hoch ist die Geschwindigkeit, mit der das Wasser bei Niederschlägen durch die Sturzbäche in die Tiefe rast. „Dies ist der wichtigste Parameter bei der Frage, wie groß das Risiko für Menschenleben ist”, sagt Estrany. Besonders schnell sammeln sich auf Mallorca große Wassermassen in den Torrentes. Entsprechend wenig Zeit bleibt, eine Hochwasserwarnung herauszugeben.
Deshalb sammeln die Riscbal-Sensoren nicht nur in den Sturzbächen selbst Daten, sondern auch an anderen Stellen im Gebirge. Dort wird neben der Niederschlagsmenge beispielsweise auch gemessen, wie hoch die Bodenfeuchtigkeit ist. Dies ermöglicht Rückschlüsse darauf, wie viel Wasser das Erdreich noch aufnehmen kann. Mit Hilfe von Computermodellen werden dann Überschwemmungsvorhersagen erstellt. Auf die Daten zugreifen kann jeder, der sich die frei zugängliche Riscbal-Applikation aufs Mobiltelefon lädt.
Neu ist das Phänomen der Überschwemmungen dabei nicht. „Die hat es schon immer gegeben”, sagt Estrany. „Das ist ganz typisch im Mittelmeerraum.” So kamen der Überlieferung zufolge im Oktober 1403 in Palma mehrere tausend Menschen ums Leben, als der Sa-Riera-Sturzbach nach tagelangen Regenfällen über die Ufer trat. Dies gilt bis heute als die schlimmste Naturkatastrophe, die Mallorca je heimsuchte. Der Klimawandel aber verstärkt die Gefahr. „Jedes Grad Temperaturanstieg erhöht den Anteil des Wasserdampfes in der Atmosphäre um sieben Prozent”, erklärt Estrany. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit heftiger Unwetter. „Die Daten belegen, dass es auf den Balearen immer mehr Niederschläge in immer kürzerer Zeit gibt.”
Die natürlichen Gegebenheiten und der Klimawandel aber sind nicht die einzigen Probleme. „In den vergangenen 60 bis 70 Jahren gab es einen entscheidenden Wandel in der Flächennutzung”, sagt Estrany. Traditionell hätten die Inselbewohner ihr Wissen um Überschwemmungsgebiete von Generation zu Generation weitergegeben. „Man wusste, wo nicht gebaut werden durfte.” Mit dem Tourismusboom und dem massiven Bevölkerungswachstum auf der Insel begann eine Baupolitik, die Sicherheitskriterien außer Acht ließ. „Wir besetzen den Raum, der eigentlich dem Wasser gehört”, sagt Estrany.
Das offizielle Kartenmaterial der Balearen-Regierung weist auf den Inseln derzeit 43 Überschwemmungsgebiete aus. Experten wie Joan Estrany zufolge liegt die tatsächliche Zahl jedoch deutlich höher. „Allein in Palma und Marratxí leben 123.000 Menschen in Überschwemmungsgebieten”, sagt er. Deshalb arbeite man daran, genauere Daten zu beschaffen. Mit Hilfe von Drohnen werden dreidimensionale Landschaftsmodelle erzeugt, die dabei helfen sollen, die Risikogebiete zu identifizieren und zu ermitteln, wieviel Wasser nötig ist, um an einer konkreten Stelle eine Überschwemmung zu verursachen.
Neben der Bebauung überschwemmungsgefährdeter Gebiete in der Nähe von Sturzbächen hat auch der Umgang mit den Torrentes zur Verschärfung des Problems beigetragen. Denn vielerorts wurden die natürlichen Flussbetten umgeleitet, überbaut oder zubetoniert. Das klassische Beispiel dafür ist der Sa-Riera-Sturzbach, der aus dem Tramuntana-Gebirge bei Puigpunyent bis nach Palma führt, wo er ins Meer mündet. Ursprünglich verlief er dort, wo sich heute die Via Roma, die Rambla, die Plaça Mercat, der Carrer Unió und der Passeig des Born befinden. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts jedoch wurde der Flusslauf vor die Stadtmauer verlegt, dorthin, wo er sich heute befindet.
Ein weiteres Beispiel in Palma ist der Torrent de Sant Magí, der aus der Serra de Na Burguesa in Richtung Palma führt. Nach und nach wurde der Sturzbach kanalisiert und überbaut. Heute ist er im Stadtgebiet weitgehend verschwunden. Bei starken Regenfällen sucht sich das Wasser nun seinen Weg an der Oberfläche und sorgt für Überschwemmungen. Ähnliche Fälle gibt es auf der Insel vielerorts. „Die Urbanisation Son Ramonell in Marratxí zum Beispiel ist im unteren Teil des Sturzbachs Son Muntaner gebaut, der aus Bunyola kommt”, sagt Estrany. „Es gibt Villen, die stehen mitten im Sturzbach.” Das gelte auch für das Einkaufszentrum Alcampo.
Wie künftig mit dem Thema Bauen in Überschwemmungsgebieten umgegangen wird auf Mallorca, ist seit Wochen Bestandteil heftiger politischer Debatten. Die auf den Balearen regierende PP hatte vor einigen Monaten ein Dekret erlassen, das eine Lockerung der Beschränkungen vorsah. Opposition und Umweltschützer fordern nicht erst seit den schweren Unwettern, die vor allem auf dem Festland für tödliche Überschwemmungen gesorgt haben, für eine Abkehr von dieser Strategie. Ministerpräsidentin Marga Prohens lenkte zuletzt tatsächlich ein.
Konfliktpotenzial gibt es aber auch so reichlich. Denn traditionell sorgt das Kompetenzgerangel rund um die Instandhaltung der Sturzbäche auf der Insel für Schwierigkeiten. Bei den Torrentes handelt es sich grundsätzlich um öffentlichen Grund und Boden. Die Abschnitte, die außerhalb geschlossener Ortschaften verlaufen, fallen in den Zuständigkeitsbereich der Balearen-Regierung, für die anderen Abschnitte ist die jeweilige Stadt oder Gemeinde verantwortlich. Vor allem das Säubern der Flussbetten funktioniert vielerorts nur unzureichend. Manche Sturzbäche sind vollkommen vermüllt, was zu Problemen führt, wenn es dann im Herbst zu den ersten Niederschlägen kommt. Dann türmen sich Abfälle und Holzreste häufig zu regelrechten Barrieren auf. Immer wieder nehmen besorgte Anwohner ihr Schicksal lieber in die eigene Hand und organisieren nachbarschaftliche Reinigungsaktionen.
So geschehen zuletzt etwa in Arenal. Dort trafen sich Freiwillige, um den Torrent de Jueus von Müll zu befreien. Der Sturzbach bildet die Stadtgrenze zwischen Palma und Llucmajor. Palmas Stadtverwaltung verweist darauf, man habe in diesem Jahr zwölf Torrentes jeweils zweimal gründlich gereinigt. Zunächst im Frühjahr, dann als Vorbereitung für den Herbst noch einmal im Sommer. Aber auch das Vorgehen dabei ist umstritten: Immer wieder wird die Ufervegetation mit schwerem Gerät so radikal beseitigt, dass sie vollkommen zerstört ist. Zuletzt kritisierte die Umweltschutzervereinigung Gadma das Vorgehen im Torrent de Almadrà bei Lloseta. Die mit den Arbeiten beauftragte Firma ging so rücksichtslos vor, dass der natürliche Flusslauf nicht wiederzuerkennen war.
Die Beseitigung der Ufervegetation sei ein schwerer Fehler, sagt Pau Fortuño, Biologe und Mitarbeiter des Umweltforschungszentrums Creaf. Diese wirke bei Überschwemmungen nämlich als Bremse. „Das ist Teil ihrer natürlichen Funktion.” Entferne man den Bewuchs und kanalisiere man die Flussbetten, gewinne die Strömung immer mehr an Geschwindigkeit und damit an zerstörerischer Kraft. Häufig kämen die großen Schäden auf diese Weise zustande und gar nicht durch die Überschwemmung selbst. Einige Torrentes der Insel aber sind in der Vergangenheit zu regelrechten Kanälen umgebaut worden, die rundherum ausbetoniert sind. Hier schießt das Wasser nur so in die Tiefe. „Das ist nicht nur falsch, das ist auch fahrlässig”, sagt Joan Estrany. Letztendlich könne das nämlich Menschenleben kosten.
Die erfolgversprechendste Strategie ist eine andere. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Renaturierung der Sturzbäche das Überschwemmungsrisiko senken kann”, sagt Estrany. Diese Erkenntnis aber hat sich noch nicht durchgesetzt, wie es scheint. Am Torrent de ses Planes bei Sant Llorenç jedenfalls, der für die Hochwasserkatastrophe von 2018 verantwortlich war, steht eine radikale Baumaßnahme an: Für fünf Millionen Euro werden der Sturzbach verbreitert, Rückhaltemauern erhöht und das Terrain angepasst.