Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.” So lautet die erste Strophe eines der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder. Wenn an Heiligabend in vielen Kirchen auf Mallorca, allen voran in der Kathedrale von Palma, eine Frau oder ein Mädchen den Gesang der Sibil·la anstimmt, kommt allerdings nicht das Christkind auf die Erde nieder, sondern ein großes Feuer, das Meer, Flüsse und Quellen verbrennt. Und mit dem Weltenbrand kommt der Antichrist: Das jüngste Gericht beginnt!
Warum ausgerechnet zu Heiligabend und obendrein in der Kirche? Weil am Ende natürlich die Muttergottes und ihr frisch geborener Sohn angerufen werden. Und weil die Angst vor dem Weltuntergang samt Wiederkehr des Messias in der christlich-abendländischen Kultur fest verwurzelt ist. Die älteste handschriftliche Fassung dieses Gesangs, damals noch mit lateinischem Text, stammt aus dem 10. Jahrhundert aus dem Kloster Saint Marcial in Limoge. Und zur – nach christlicher Zeitrechnung – damaligen Jahrtausendwende, erwarteten tatsächlich weite Teile der Christenheit das Ende der Welt.
Kleine Ironie der Geschichte am Rande: Auch bei der letzten Jahrtausenwende wurde eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes befürchtet, in Form von weltweiten Computerabstürzen aufgrund des Millenium-Bugs. Doch das virtuelle wie das physische Universum blieb auch diesmal bestehen.
Sibyllen waren antike Seherinnen
Und mit ihm der Cantus Sibyllae. Die Sibyllen waren eigentlich antike Seherinnen. Einige von ihnen wurden jedoch ins christliche Zeitalter übernommen, darunter auch die Sibylle von Erythrai. Ihre apokalyptischen Prophezeiungen waren kompatibel mit dem Jüngsten Gericht in den Evangelien, weshalb sie sich problemlos christianisieren und in die Liturgie aufnehmen ließen. Im Mittelalter hatte sich der Gesang zügig auf der spanischen Halbinsel, in Frankreich und Italien ausgebreitet. Die erste katalanischsprachige Version kam 1229 mit dem Erobererkönig Jaume I. nach Mallorca.
Zu jener Zeit war der Cant de la Sibil·la Teil eines sakralen Schauspiels, bei dem der Heilige Augustinus nacheinander verschiedene biblische Propheten befragte. Im 16. Jahrhundert setzte das Konzil von Trient dieser Tradition ein Ende. Alles, was als nicht streng liturgisch galt, wurde aus den Gottesdiensten verbannt, eben auch diese Aufführungen samt dem Gesang der Sibylle. Nur in Alghero auf Sardinien und auf Mallorca hielt sich der Cant de la Sibil·la, trotz Weisung von oben, und wurde über die Jahrhunderte weiter gesungen. Seit rund 15 Jahren feiert diese Tradition auch in Katalonien und Valencia ihre Wiederauferstehung. 2010 wurde der Gesang von der Unesco auf die Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt.
Ursprünglich erklang gregorianischer Gesang
Was die Unesco tatsächlich gelistet hat, ist laut dem Theologen und Philologen Gabriel Seguí zwar der mittelalterliche Text, jedoch mit Musik des 19. Jahrhunderts, die in einem orientalischen Ton gehalten ist, wie es damals der Mode entsprach. Ursprünglich erklang an ihrer Stelle gregorianischer Gesang, und zwar aus dem Mund eines Priesters oder Knaben, der „wie ein Fräulein“ gekleidet war. Erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren dürfen auch Mädchen und Frauen in die Rolle der Sibylle schlüpfen.
Die Erklärung zum Weltkulturerbe hat auch dazu geführt, dass der Sibyllengesang zum Thema von Essays und Vorträgen geworden ist, ebenso Gegenstand verschiedener Musikaufnahmen. Sogar in Genres wie Jazz, Weltmusik und Heavy Metal wurde er aufgegriffen.
Im Rahmen der Liturgie wird der Gesang nach wie vor an Heiligabend aufgeführt. Die Maitines oder Misa del gallo (Hahnenmesse), wie die Christmette auf der Insel heißt, wären für die Mallorquiner ohne den Cant de la Sibil·la undenkbar. In der Kathedrale beginnen sie am Donnerstag, 24. Dezember, um 23 Uhr, in der Kirche des Klosters Lluc, wo der Cant der Sibil·la von einem Kind der klösterlichen Chorschule „Els Blauets“ gesungen wird, bereits um 22 Uhr. Wann in den übrigen Gemeinden die Christmette beginnt und ob dort eine Sibylle singt, darüber informiert eine Übersicht auf der Website des Bistums.