Wenige Wochen vor Kriegsende, genauer gesagt am 1. März 1945, schreibt die jüdische Cembalistin Alice Ehlers, deren Familie sich zeitweise auf Mallorca vor Hitler in Sicherheit gebracht hatte, an Albert Schweitzer:
Es sieht jetzt so aus, als ob dieser schreckliche Mann in Europa am Ende wäre; armes Deutschland, was ist aus ihm geworden? Für mich ist Deutschland das Land von Bach und Goethe und Beethoven und Dürer, und ich empfinde großes Mitleid mit diesem Volk, das solche großen Geister hervorbringen konnte und nun seinen Weg so gänzlich verloren hat.
Das Ende des Dritten Reiches, dessen Niederlage schließlich im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation besiegelt wurde, beseitigte nicht nur das Nazi-Regime in Deutschland, sondern brachte auch das Aus für seine offiziellen Repräsentanten in Spanien mit sich. Auf Mallorca bedeutete dies die Schließung des deutschen Konsulats. Die Tage von Hans Dede als amtlicher Konsul waren gezählt. Der Kaufmann, Jahrgang 1900, war im Jahre 1932 zum obersten Vertreter des deutschen Reiches auf Mallorca ernannt worden. Er wirkte die gesamten zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft auf der Insel und konnte hier als von den spanischen Behörden geachteter und hofierter Ehrenbürger fernab von Krieg und Kämpfen ein weitgehend friedvolles Leben in Palma genießen.
Doch mit der Kapitulation Deutschlands war er nicht mehr im Amt zu halten. Formell trug sich das Geschehen um seine Entmachtung folgendermaßen zu: Am 8. Mai erschienen drei Polizeibeamte im Konsulat an Palmas Rathausplatz Nummer 5, erster Stock, um die Diensträume im Auftrag des balearischen Zivilgouverneurs schließen zu lassen. Die Beamten wurden von Dede empfangen und in den Raum für die konsularischen Angelegenheiten geleitet. Die Polizisten versiegelten die Tür zu diesem Dienstzimmer. Nicht geschlossen wurde der angrenzende Büroraum, in dem Dede als Kaufmann seine Import-Export-Handelsgeschäfte betrieb. Diese durfte er, zumindest von spanischer Seite aus, unbeanstandet fortführen. Allerdings ermahnten ihn die Staatsbeamten, in Zukunft nicht mehr als Konsul zu fungieren. Keine Stunde später war die Amtshandlung beendet.
Was steckte hinter dem Vorgehen? Mit dem Ende des Weltkriegs drängten die Alliierten das Franco-Regime, die deutschen Organisationen in Spanien streng zu kontrollieren sowie deren Vertreter festzusetzen. In Anbetracht der neuen Machtverhältnisse in Europa zeigte sich die spanische Regierung, die zuvor eng mit Deutschland verbandelt gewesen war, nach außen hin kooperativ. Sobald das Dritte Reich aufgehört hatte zu existieren, wurden dessen Repräsentanzen, die Botschaft und die Konsulate geschlossen. Palma bildete keine Ausnahme.
In den Maitagen vor nunmehr acht Jahrzehnten brach für viele Deutsche, die damals in Spanien lebten, eine Zeit der Ungewissheit an. 8./9. Mai 1945: Das Nazi-Reich hatte kapituliert, der Krieg in Europa war zu Ende, Deutschland lag in Trümmern, Millionen von Flüchtlingen hatten ihre Heimat verloren, Millionen von Menschen waren gewaltsam ums Leben gekommen.
Im Gegensatz dazu bildete Spanien in Europa geradezu eine Insel des Friedens. Es herrschte indes keine Freiheit, sondern eine angespannte, bleierne Ruhe, seitdem der Diktator Francisco Franco seit 1939 in ganz Spanien die Macht fest im Griff hatte. Die rund 50.000 Deutschen, die bereits damals in Spanien lebten, waren ihrerseits in großer Mehrheit solche, die sowohl ihrer bisherigen Nazi-Führung als auch letztlich dem Franco-Regime in Treue ergeben waren. Andernfalls wären sie längst verhaftet und nach Deutschland deportiert worden.
Doch mit dem Kriegsende verschoben sich die Machtverhältnisse auf dem Kontinent. Und so, wie der spanische „Caudillo” in jenen Tagen befürchten musste, die Alliierten würden auch ihn als letzten Führer eines „faschistischen” Staates in Europa bald beseitigen, so ähnlich wussten auch die Deutschen in Spanien nicht so recht, wie es um ihre Zukunft bestellt sein würde. So brach für diese ehemaligen „Reichsangehörigen” – anders als in Deutschland – die neue Zeit nicht mit Bombern und Panzern an. Die Maßnahmen waren viel subtiler: Unter dem Druck der Alliierten wurden in Spanien neben der Botschaft und den Konsulaten alle weiteren deutschen Einrichtungen wie etwa Schulen und Kirchen geschlossen und deren Immobilien beschlagnahmt.
MM konnte in früheren Reportagen mit Zeitzeugen sprechen, die jenen Umbruch selbst miterlebt hatten. Sie waren im Mai 1945 zumeist Kinder und Jugendliche, oftmals Angehörige der Hitlerjugend (HJ) in Spanien gewesen. Es sind die Erinnerungen von seinerzeit Minderjährigen.
Jeden Morgen das Horst-Wessel-Lied singen
„Man spürte gegen Kriegsende, dass die Deutschen sehr traurig waren, es hatte die Stimmung einer Tragödie”, sagte Carlos de Zayas (1933-2021). Er war einer der wenigen Spanier gewesen, die von 1939 bis 1945 die Deutsche Schule Madrid besuchten. Von daher stammten die guten Deutschkenntnisse des späteren Umweltaktivisten. „Die Lehrer waren streng und legten Wert auf Disziplin. Jeden Morgen mussten wir uns im Schulhof militärisch formieren und das Horst-Wessel- und das Deutschlandlied singen.”
Dann, im April 1945, war über Nacht alles vorbei. Die Schule wurde geschlossen, die „schönen Schulbusse” verschwanden aus dem Stadtbild, die Lehrer verloren ihre Arbeit. Zayas und die spanischen Mitschüler wurden auf einheimische Schulen verteilt. Seine Eltern organisierten den Fortgang des Deutsch-Unterrichts privat mit einem der entlassenen Lehrer.
An ähnliche Erlebnisse erinnert sich Hans Meinke, Jahrgang 1937. Knapp zwei Jahre besuchte er die deutsche Schule in Barcelona, bevor auch sie bei Kriegsende geschlossen wurde. Vor Augen hat er noch ein Bild, vermutlich eine Abschlussfeier, rote Hakenkreuzfahnen in der Aula, auf der Bühne in HJ-Uniformen die Abiturienten, die dann in den Krieg zogen.
Verschwommener ist die Erinnerung an das Ende der Schule: Offenbar fand noch einmal eine letzte Gedenkfeier statt, als das Dritte Reich aufhörte zu existieren. Damals kamen noch einmal die in Barcelona lebenden deutschen Honoratioren zusammen, um sich in Endzeitstimmung offiziell voneinander zu verabschieden. Meinke fand sich bald darauf mit seinen Eltern in Marokko wieder. Sein Vater, Schiffskaufmann, war von der Firma versetzt worden.
Letzte Schulaufführung: „Wallensteins Tod”
„1945 war das Chaos. Da wusste niemand, wo hinten und wo vorne ist”, wusste Ulrich Werthwein, Jahrgang 1929, zu berichten. Der spätere Diplom-Ingenieur für Gartenbau, der seit 1954 auf Mallorca lebte und hier im Jahre 2018 starb, war gerade 16 Jahre alt geworden, als die Alliierten die deutsche Schule in Barcelona schlossen und das Gebäude der französischen Gemeinschaft übergaben. Ein Jahr zuvor, 1944, hatten dort noch 50 Lehrer und 1000 Schüler das 50-jährige Bestehen der Einrichtung gefeiert und unter anderem ein Schiller-Drama aufgeführt: „Wallensteins Tod”.
Auch Werthwein hatte gesehen, wie Jahr für Jahr die Abiturienten in HJ-Uniform zur Wehrmacht eingezogen wurden. Manche von ihnen starben an der Front. Dann fanden Gefallenengedenken in der Schule statt. Gegen Kriegsende wurden selbst die Lehrer, teils schon alte Männer, eingezogen. Einer von ihnen fiel ebenfalls. Lediglich ein Lehrer setzte sich kurz vor Schluss zum britischen Konsulat in Barcelona ab. Auf diese Weise überlebte er den Krieg.
Werthwein befand sich damals wie alle Mitschüler in der Hitlerjugend. Jeden Donnerstagnachmittag ging es im Braunhemd zum HJ-Dienst in die Schule, dort wurde exerziert, gesungen, an Modellflugzeugen gebastelt. In den Sommerferien hieß es: HJ-Schulungslager in Deutschland. Die Teenager wurden in organisierten Reiseverbänden per Zug in die Heimat geschafft und in Zeltlagern vormilitärisch ausgebildet. „Dort haben sie uns geschlaucht. Das Wetter: saumäßig. In den Zelten stand das Wasser 20 Zentimeter hoch”, erinnerte sich Werthwein.
Dann, 1945, war plötzlich alles anders. Werthweins Vater war sterbenskrank aus dem Krieg zurückgekehrt, die Mutter wurde depressiv. Der junge Werthwein beschloss Landwirt zu werden. „Ich war froh, dass die Schule aus war. Ich war kein guter Schüler.” Und dennoch hatte der gedrillte Hitlerjunge es im Mai 1945 nicht ertragen können, dass seine Schule in Barcelona nun den Franzosen gehörte. Darum zog er nachts vor das Gebäude und warf dessen Scheiben mit Steinen ein, um dem Feind kein intaktes Haus zu hinterlassen.
In Palma war ein solcher Akt der Auflehnung nicht mehr möglich. Hier war die Deutsche Schule in El Terreno bereits 1943 geschlossen, der Unterricht „bis auf Weiteres” eingestellt worden. Die Lehrerinnen und Lehrer mussten zum Kriegsdienst nach Deutschland zurückkehren.
Deutsche Dokumente aus Spanien wurden in England ausgewertet
Nach der Kapitulation in Deutschland waren die Alliierten und ihre Vertretungen in Spanien auch jene, die das Aktenmaterial in den versiegelten Konsulaten beschlagnahmten und nach Großbritannien schaffen ließen, wo die Dokumente auf dem Landsitz Whaddonhall ausgewertet wurde. So manche Akte aus Spanien kam später bei den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg gegen hohe Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes zum Einsatz.
Auch die Dokumente aus Mallorca wurden erfasst. Eine Inventarliste der Alliierten in englischer Sprache vermerkte über den Archivbestand von Ex-Konsul Dede, dass er sämtlichen behördlichen Briefverkehr fein säuberlich abgelegt und aufbewahrt hatte. Die Briten hielten zudem einen Vermerk fest: „6 card indexes of Jews who lost German nationality”. Es handelt sich also um sechs Karteieintragungen von deutschen Juden, denen die Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, also um Menschen, die unter den Verfolgungen durch die Nazis zu leiden hatten. Wer jene Personen im Einzelnen waren, wurde nicht aufgeführt.
Die Alliierten beließen es nicht allein bei der Durchsicht der deutschen Dokumente, derer sie in Spanien habhaft werden konnten. Wie der Historiker Carlos Collado-Seidel in seinem Buch „Angst vor dem ,Vierten Reich’” schildert, wollten sie verhindern, dass NS-Parteigänger in Spanien einen „sicheren Hafen” vorfänden, wo sie sich hätten neu organisieren können. So erstellten die Alliierten entsprechend ihrer Anti-„Safe haven”-Politik Personenlisten von Nazi-Funktionären, die man von Spanien ausgewiesen an die Besatzungsbehörden nach Deutschland überstellt haben wollte. Im Oktober 1947 übergab die US-Botschaft dem spanischen Außenministerium eine Liste mit 104 Namen. In Zusammenhang mit Mallorca tauchte der Name Hans Dede auf: Dem Ex-Konsul wurden dort „engste Verbindungen zur deutschen Spionage” angelastet.
Nicht erst zu jenem Zeitpunkt wird Hans Dede gewusst haben, dass es besser für ihn war, nicht auffindbar zu sein. Es gelang dem Ex-Konsul unterzutauchen, bis die akute Gefahr vorüber war und das Interesse an seiner Person nachließ. Denn es zeigte sich schon bald, dass der Impetus der Alliierten, die Deutschen zu „entnazifizieren”, mit der Zeit erlahmte. Parallel mit dem Aufkommen des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands begannen die USA den „Generalísimo” Franco als „Anti-Kommunisten” neu zu entdecken und wertzuschätzen.
Bevor dieser Wandel in Spanien greifbar wurde, versteckte sich Dede im Raum Valencia. Später gelangte er nach Mallorca zurück, wo er in Palma mit seiner Ehefrau Erna unbehelligt fortlebte. Als die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland 1952 erstmals wieder diplomatische Beziehungen mit Spanien aufnahm und eine Gesandtschaft einrichtete, wurde kurioserweise bei Hans Dede angefragt, ob er als Honorarkonsul erneut zur Verfügung stünde. Noch im Jahre 1957 hielt ein Beamter im Auswärtigen Amt in Bonn fest:
In Palma bestand bis zum Kriegsende ein Wahlkonsulat, dessen Leiter Herr Dede heute noch in Palma lebt. Er hat für die Übernahme des Postens kein Interesse bekundet. An ihn erneut heranzutreten, dürfte sich nicht empfehlen.
Die Tatsache, dass Dede von den Bonner Beamten überhaupt noch einmal als Konsul in Betracht gezogen wurde, ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass der Roman von Albert Vigoleis Thelen ("Die Insel des zweiten Gesichts"), in dem die Nazi-Vergangenheit Dedes literarisch publik gemacht wurde, bereits 1953 erschienen war. Dieser Sachverhalt zeigt einmal mehr, wie unverfänglich und unbedenklich die junge Bundesrepublik in den Jahren des „Wiederaufbaus” und des „Wirtschaftswunders” auf Repräsentanten des alten Nazi-Regimes zurückgriff.
Ein Deutscher wie ein "Schweizer Uhrwerk"
Der aus Hamburg stammende Dede war als Kompagnon mit spanischen Partnern im Agrarhandel tätig. So vertrieb er Mandeln und Aprikosen nach Deutschland. Wenn er am Morgen im Büro erschien und durch den Saal schritt, erhoben sich alle Mitarbeiter hinter ihren Schreibtischen und begrüßten den Vorgesetzten stehend. Ein ehemaliger Angestellter, der 1971 als junger Mann in den Betrieb eintrat, erinnerte sich:
Dede war wie ein Schweizer Uhrwerk. Er betrat immer um 9.15 Uhr das Büro. Man konnte die Uhr nach ihm stellen.
Der Vorgesetzte sei zu jener Zeit eine „gewisse Autorität” gewesen, von der Statur her nicht sehr groß, so etwa 1,60 bis 1,62 Meter. Das weiße Haupthaar habe er auf der Straße mit einem Hut bedeckt, dazu trug er dunkle Anzüge. Ins Büro fuhr er mit „einem alten schwarzen Wagen, aus den 1950er Jahren”.
Der ehemalige Konsul des „Dritten Reiches” wusste demnach auch ohne die honorige Würde seines einstigen Postens ein gutbürgerliches Leben auf Mallorca zu führen. Dem Vernehmen nach zog er Mitte der 1970er Jahre zu einer Adoptivtochter nach Südamerika. Erna Dede hingegen blieb offenbar in Palma zurück, wo sie laut Friedhofsamt 1988 starb und feuerbestattet wurde. Dede selbst erlag 1990, kurz nach seinem 90. Geburtstag, einem Krebsleiden.
Der Untergang Deutschlands in den spanischen Medien
Das Ende des „Dritten Reichs” wurde 1945 in den spanischen Inselmedien mitverfolgt, kommentiert, interpretiert. Die Ereignisse finden sich in der Berichterstattung von „Ultima Hora” wieder. Das heutige spanische MM-Schwesterblatt war schon damals die größte Tageszeitung auf Mallorca, auch wenn das Medium in jenen Zeiten lediglich vier bis acht Seiten umfasste.
„In Europa bricht der Frieden heran”, titelte „Ultima Hora” am 8. Mai (Dienstag); „Das Kampfgetöse in Europa hat aufgehört”, hieß es am 9. Mai. General Franco wurde sodann gleich als der zweifache Retter Spaniens gerühmt. Er habe das Land im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) vor dem Bolschewismus sowie im Zweitem Weltkrieg vor der Zerstörung bewahrt, hieß es auf der Titelseite am 9. Mai.
Auf den übrigen Seiten herrschte friedlicher Alltag: In den Kinos in Palma liefen Hollywoodfilme, im Teatre Principal wurde das Theaterstück, „Noche decisiva”, erstaufgeführt. Seit jener „Entscheidenden Nacht” sind nunmehr 80 Jahre vergangen. Doch gänzlich frei von Kriegen ist Europa nach wie vor nicht.
Der Verfasser dieses Bericht ist auch Autor des Buches "Mallorca unterm Hakenkreuz", das Ende 2017 im Göttinger Matrix Media Verlag erschien.