Wären in den vergangenen 100 Jahren nicht drei einschneidende Vorkommnisse gewesen, würden noch weniger Menschen als ohnehin schon das verlorene Dorf Son Carrió kennen: Zunächst einmal war dieser Ort der einzige auf Mallorca, der von Republik-Anhängern im Rahmen ihres Eroberungsversuchs am Anfang des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) kurzzeitig besetzt wurde. Am 26. August und den Folgetagen berauschten sich die wie Vandalen agierenden linken Eroberer mit blasphemischen Festivitäten vor der wuchtigen Sant-Miquel-Kirche, entfesseltem Alkoholgenuss und Plünderungen an ihrem Erfolg, bis sie am 4. September von Anhängern der aufständischen Militärs um Francisco Franco knall auf fall wieder vertrieben wurden. Nicht wenige der Kurzzeit-Besatzer wurden, bevor sie ihre Schiffe erreichen konnten, rücksichtslos niedergemäht.
Das zweite wichtige Ereignis der vergangenen Jahrzehnte in Son Carrió war die Sturzflut am 9. Oktober 2018, die in der Gegend 13 Menschen das Leben kostete. Der dortige, wie eine bedrohliche Schlange den Ort durchschneidende „Torrent de Ses Planes” trat damals über die Ufer und riss Bäume, Autos und sonstige Objekte mit, die im weiter östlich gelegenen Badeort S’Illot mit Karacho ins Meer gespült wurden.
Das dritte Ereignis, das Son Carrió im kollektiven Inselgedächtnis hält, ging erst vor wenigen Tagen über die Bühne: Neben dem ehemaligen Bahnhof wurde in einer Halle mit Pauken, Trompeten und Balearen-Chefin Marga Prohens herself das lange ersehnte Eisenbahn-Museum des Archipels eingeweiht. Seitdem steht der Ort ob des Andrangs besonders an den Wochenenden Kopf, wie MM bei einer Ortsbegehung am Samstag erleben durfte. Wo auch immer der Reporter im Dorf stand, hallten im Hintergrund die Klänge einer Band, die Kinder und Erwachsene vor der überraschend hohen Museumshalle mit Dixie-Musik bespaßte.
Und ja, das neue Highlight lohnt den Besuch: Statt irgend welche verstaubte Waggons einfach lustlos zu präsentieren, wird den geneigten Besuchern die schöne alte Welt der mallorquinischen Bahn bei einem Rundgang anschaulich gezeigt – mit Filmchen, im Raum stehenden Hologrammen, tuckernden Lokomotiven und Dampfmaschinen sowie sogar retrohaft gekleideten Statisten mit Zylinder, Frack und allem Pipapo.
Bahnstrecke 1977 dichtgemacht
Jeder Gast bekommt ein Headset, auch auf Deutsch wird man durchaus salbungsvoll darüber informiert, dass es ehedem viel mehr Bahnlinien als heute gab und dass auch Son Carrió bis zum Jahr 1977 über einen Bahnhof verfügte – und zwar an der Strecke nach Artà, die heute teilweise ein Fahrradweg ist und damals wegen Unwirtschaftlichkeit dichtgemacht wurde. Dieses Schicksal hatte die jahrzehntelang bestehende Strecke nach Felanitx bereits zehn Jahre davor ereilt, wie man bei dem Besuch ebenfalls erfährt.
Und so ist das nur etwa fünf Kilometer vom Meer entfernt, in hügeliger, grüner Landschaft liegende, zur Gemeinde Sant Llorenç de Cardassar gehörende 1000-Einwohner-Dorf im Augenblick in aller Munde. Viele Inselfamilien reißen sich förmlich darum, an einem der durchaus wohldurchdachten Light-and-Sound-Spektakel teilhaben zu dürfen. „Etwa 50 Veranstaltungen machen wir am Wochenende pro Tag”, freute sich Marga, die während des MM-Rundgangs an der Kasse stand.
Einst von kriegerischen Horden bis weit über die Schmerzgrenze hinaus gequält und später von der Natur auf geradezu apokalyptische Weise geschunden, erlebt das Örtchen Son Carrió, dessen im Bürgerkrieg beschädigte Kirche von Architekturgott Antoni Gaudí (1852-926) mitgestaltet wurde, jetzt eine sicherlich verdiente schöne Zeit. Denn das Bahnmuseum bringt solvente Menschen in die wenigen, teils mit Blumenranken begrenzten Gassen. Von diesen Besuchern, die das eher unscheinbare Kaff möglicherweise ansonsten links liegen gelassen hätten, profitieren auch die wenigen Gaststätten, etwa die Restaurants Alma Cas Patró und Can Mateu Coca.
Oder die urige Bar Can Jeroni. Die Kellnerin des letztgenannten Betriebs war jedenfalls bei der MM-Ortsbegehung guter Dinge ob der aktuellen Entwicklung. „Wir merken schon, dass jetzt mehr Leute kommen”, so die Insulanerin frohgemut.