An einem Abend Ende Januar – auf Mallorca hat gerade das Schwarz der Nacht das Blau des Tages verdrängt – spricht Inés Batle drei Buchstaben in das Mikrofon ihres Laptops. „SOS” sagt sie an ihre Zuhörer gerichtet. Das sind wie sie Hoteliers aus dem Nordosten der Insel. Sie alle sind in einer Videokonferenz miteinander verbunden. Batle – so erzählt sie es – spricht aus, was alle fühlen: „Wir sind frustriert, wir müssen etwas tun, wir benötigen Hilfe.”
Zwei Wochen später, an einem Freitagvormittag im Februar, liestInés Batle Zeilen eines Manifests vor. Reporter notieren ihre Worte, Fernsehkameras filmen. Die Kampagne SOS Turismo gründet sich und etabliert sich in der mallorquinischen Gesellschaft. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der in der Tourismusbranche arbeitet – oder ist selbst in ihr tätig.
Die Vertreter von SOS Turismo reden fast täglich mit Politikern, an Hotels, Restaurants, Bars hängen Plakate, gedruckt oder gemalt. In rot-schwarzen Buchstaben steht SOS auf ihnen. Die Facebook-Gruppe zählt mehr als 35.000 Mitglieder. Tendenz schnell wachsend. Es entstehen Mund-Nasen-Schutze und T-Shirts mit dem SOS-Emblem. Die Vertreter der Kampagne haben ein Ziel: Von Juni, besser sogar von Mai an, sollen wieder Urlauber in Hotelbetten schlafen. Kellner, Köche, Rezeptionisten sollen wieder Arbeit haben.
Das Plakat, das Inés Batle an ihrer Drei-Sterne-Herberge angebracht hat, reicht über die Stockwerke sechs, sieben, acht, Blickrichtung Meer. Es ist 80 Quadratmeter groß. „Das denkt man nicht, oder?”, sagt Inés Batle und lacht. Sie ist 49 Jahre alt, verheiratet, hat drei Kinder. Zusammen mit ihren Eltern führt sie das Hotel Morito, Platz für 243 Gäste, sowie die 38 Appartements fassende Anlage Morito- Beach am Carrer Bonança in Cala Millor. Sie und sieben weitere Betreiber kleiner bis mittelständischer Hotels aus dem Gebiet Llevant im Inselosten, zu dem die Gemeinden Artà, Son Servera, Capdepera gehören, haben SOS Turismo ins Leben gerufen. „Es ist ein Hilferuf”, sagt Inés Batle.
Einer, der auf Zahlen basiert, die auch Inés Batle kennt. 40 Prozent der Bars und Restaurants auf Mallorca werden aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise nicht wieder öffnen, teilt der Unternehmerverband Pimem mit. Das Bruttoinlandsprodukt auf den Balearen ging 2020 um 27 Prozent zurück. Diese Zahl ist zweieinhalb Mal so hoch wie die Gesamtspaniens. Und dieses Jahr? Die Zeitung „El País” schreibt: „Die Wirtschaft steht im Juli auf dem Spiel.”
Schon zwei Monate eher möchte Inés Batle ihre beiden Unterkünfte öffnen. Ihr Vater kaufte das Hotel Morito an dem Tag, als sie auf die Welt kam. Seit 30. August vergangenen Jahres sind die Herbergen geschlossen – also seit dem Monat, in dem Deutschland eine Reisewarnung für die Balearen aussprach. Die Gäste sind zu 80 Prozent Deutsche. „Manche kommen seit 30 Jahren zu uns”, sagt Batle. „Andere sehe ich öfter als meine Familie.”
Obwohl sich die Hotel-Branche auf der Intensivstation befindet, wie Inés Batle sagt, lacht die Frau viel. Jetzt sitzt sie in ihrem Büro, das sich im zweiten Stock ihres Hotels befindet. Sie bewegt ihre Hände von links nach rechts, um etwas zu verdeutlichen. „Die Krise ist wie ein Tennisspiel – und wir Hoteliers sind die Bälle.” Als Spieler könnte man sich den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez und die Ministerpräsidentin der Balearen, Francina Armengol, vorstellen. Die Turnierform? Mit Sicherheit die höchste, also ein Grand-Slam, Wimbledon vielleicht.
Die Forderungen der SOS-Kampagne an beide Spieler: schneller impfen, finanzielle Hilfen, Erlass von Steuern. „Selbst die Finanzkrise 2008 hat nicht so viel soziales Leid hervorgerufen”, sagt Inés Batle und schaut nachdenklich auf die Tischkante. Ihre Mitarbeiter, Kellner, Rezeptionisten, Reinigungskräfte, haben individuelle SOS-Poster geschrieben. Auf einem steht: „Meine Tochter hat Hunger.”
Bisher gab es lediglich für in Not geratene Bars und Restaurants auf den Balearen mit weniger als 20 Beschäftigten 1500 Euro Hilfe. „Das reicht nicht”, sagt Inés Batle. Sie als Hotelierin erhält nichts, muss trotzdem Strom und Wasser für den Mindestbetrieb zahlen. Kurzarbeitergeld erhielt sie nur bis zum Ende der vergangenen Saison. Geld verdient sie derzeit mit Aufträgen als selbstständige Ingenieurin – den Job macht sie schon immer nebenbei.
Doch es gibt Hoffnung, dass das SOS-Funkzeichen, drei Punkte, drei Striche, drei Punkte, bald erwidert wird. Elf Milliarden Euro versprach Spanien kleineren und mittelständischen Tourismus-Unternehmen Ende Februar. Sie sollen über die Regionalregierungen verteilt werden. Tourismus-Staatssekretär Fernando Valdés sagte, dass 100 Millionen auf die Balearen fließen. Und für einen Impfpass zum Reisen haben sich die Balearen als Pilotregion angeboten.
In Cala Millor wollen sie die Krise zusammen durchstehen. „Wir kennen uns hier alle, wir sind verwoben”, sagt Inés Batle. In dem 5000-Einwohnerort wuchs sie auf. „Wir lieben unsere Region.” Batle schaut nicht nur auf sich, sondern auch auf den Betreiber des Modegeschäfts nebenan. „Was bringt es dem Armen, wenn die Hotels nicht aufhaben?”
Stolz ist Inés Batle auf das, was SOS Turismo bereits geschafft hat. Die Kampagne habe sich wie ein Lauffeuer über die Insel verbreitet. „Wir Hoteliers haben den Sauerstoff geliefert.” Ableger haben sich gebildet. Sportvereine (siehe S. 33) und Kulturschaffende haben den Slogan übernommen, um auf ihre ebenfalls prekäre Lage aufmerksam zu machen. Es fehlen Einnahmen, wenn man vor leeren Tribünen spielt.
Und wer weiß, vielleicht kommen schon im Mai, Juni die ersten Touristen. „Die Leute wollen reisen, Tourismus ist Kultur”, sagt Inés Batle. Dann würde sie die SOS-Kampagne gerne in eine Willkommensbewegung umwandeln. Auf dem riesigen Plakat an ihrem Hotel soll dann „Home Sweet Home” stehen.