Wie kann der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Neustart in Deutschland gelingen? Beim achten Wirtschaftsforum "Neu Denken" auf Mallorca, initiiert und organisiert von TV-Journalistin Sabine Christiansen und der Plattes Group unter der Leitung von Willi Plattes, stand diese Frage am Freitagvormittag im Zentrum. Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutierten über Wege aus der Stagnation – mit Blick auf strukturelle Reformen, technologische Entwicklungen und internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Nach einem informellen Auftakt am Donnerstagabend eröffnete Sabine Christiansen das Forum im Castillo Hotel Son Vida offiziell und führte durch das Programm. Den Auftakt machte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der per Videoschalte mit Michael Bröcker (Table Media) sprach. Seine Einschätzung: Die wirtschaftliche Lage sei angespannt, doch es gebe Spielräume für einen Neustart – vorausgesetzt, die politischen Weichen würden jetzt richtig gestellt. Deutschland brauche weniger Debatten und mehr Umsetzung.
"Kein Thema darf Tabu sein"
Deutliche Worte fanden auch Susanne Wiegand, CEO des Rüstungsunternehmens Quantum Systems, und Investor Christian Miele. Beide forderten eine strategische Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Wiegand sprach sich für eine stärkere industrielle Resilienz und Verteidigungsfähigkeit aus – inklusive energiepolitischer Offenheit: Auch eine Rückkehr zur Kernkraft dürfe kein Tabu sein. Miele betonte, dass der Reformdruck wachse – bis zur Bundestagswahl 2029 müsse der Bevölkerung vermittelt werden, dass sich der Kurs Deutschlands stabilisiere. Vor allem Bürokratieabbau sei hierfür unverzichtbar.
Für unternehmerischen Wandel plädierte Christoph Werner, Vorsitzender der Geschäftsführung der Drogeriemarktkette dm. In seinem Impulsvortrag stellte er klar: "Radikale Veränderung" bedeute nicht Zerstörung, sondern Rückbesinnung auf den Kern. Nicht umsonst leite sich das Wort "radikal" von radix, also Wurzel, ab. Entscheidend sei, die strukturellen Ursachen für das wirtschaftliche Zögern zu identifizieren – und konsequent neue Lösungen zu entwickeln. Werner verwies auf den Einstieg von dm in die Online-Apothekenlandschaft als Beispiel dafür, wie Unternehmen sich strategisch an gesellschaftlichen Bedarfen ausrichten können.
Eric Demuth, CEO der Kryptobörse Bitpanda, richtete den Blick auf digitale Finanzmärkte. Er sieht Bitcoin als langfristigen Wertspeicher und rechnet mit einer zunehmenden Integration digitaler Vermögenswerte in das globale Finanzsystem. Während die USA gezielt in KI und Stablecoins investieren, bleibe Europa zögerlich. Demuth forderte einen klareren regulatorischen Rahmen, weniger staatliche Hürden – und eine innovationsfreundlichere Grundhaltung.
Historische Chance für Deutschland und Europa
Jörg Rocholl, Präsident der ESMT Berlin, sieht in der aktuellen geopolitischen Lage und den Verwerfungen in den USA eine historische Chance für Europa und Deutschland, als Standort für Innovation, Forschung und unternehmerische Dynamik wieder an Attraktivität zu gewinnen. Sein Argument: Internationale Wissenschaftler und Talente – etwa von renommierten US-Universitäten wie Harvard oder Berkeley – interessierten sich zunehmend für Europa. Diese Entwicklung gelte es nun strategisch zu nutzen.
Deutschland müsse die Gelegenheit ergreifen, Reformen umzusetzen, die den Standort langfristig stärken. Zugleich warnte Rocholl: Investitionen allein reichten nicht aus. Ohne strukturelle Veränderungen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft könne selbst viel Kapital keine nachhaltige Wirkung entfalten. Entscheidend sei es, die Systeme funktionsfähig zu machen – erst dann könnten staatliche Impulse ihre volle Wirkung entfalten.
Die Arbeitswelt der Zukunft
Die Arbeitswelt der Zukunft stand im Fokus der anschließenden Kurzbeiträge. Sebastian Dettmers, CEO von Stepstone, warnte vor einer sich verschärfenden "Arbeiterlosigkeit" in Deutschland und Europa. Der Mangel an Fach- und Arbeitskräften sei längst Realität. Sybille Reiß, Personalvorständin bei TUI, ergänzte, dass der technologische Wandel durch KI neue Anforderungen an Unternehmen stelle – nicht nur technologisch, sondern auch kulturell. Unternehmen müssten sich fragen, wie sie künftig Talente binden und zugleich die menschliche Komponente im Arbeitsprozess erhalten könnten.
Den Abschluss des Vormittags bildete eine Würdigung unternehmerischen Engagements im Rahmen der Rubrik "Financial Success with Social Impact". Prof. Dr. Michael Otto, langjähriger Aufsichtsratsvorsitzender der Otto Group, wurde für seine konsequente Verbindung von ökonomischem Erfolg und gesellschaftlicher Verantwortung ausgezeichnet. Simone Bagel-Trah, Vorsitzende des Gesellschafterausschusses von Henkel, würdigte ihn als Vorreiter eines werteorientierten Unternehmertums.
Standing Ovations für Michael Otto
Das Publikum honorierte Ottos Lebensleistung mit stehenden Ovationen. In seiner Dankesrede sprach er sich eindringlich für eine offene Gesellschaft und eine Kultur des Dialogs aus. Eine Gesellschaft funktioniere, so Otto, "wie ein Biotop: Nur wenn sie vielfältig ist, kann sie sich gegen äußere Gefahren behaupten. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung und digitaler Hetze komme es darauf an, Gesprächsbereitschaft und gegenseitigen Respekt aufrechtzuerhalten: Man dürfen niemals aufhören, miteinander zu reden – auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist.
Impulse für zukunftsgerichtetes Investieren kamen von Achim Berg (Viessmann Invest Consult) sowie Hendrik Brandis (Earlybird Invest), der im Gespräch mit Christiansen auf die Notwendigkeit einging, Innovationsfähigkeit in Unternehmen strategisch messbar zu machen. Das Fazit: Deutschlands Zukunft liegt in Reformen, nicht in Reparaturen – und in der Fähigkeit, wirtschaftliche Verantwortung mit gesellschaftlicher Relevanz zu verbinden.
Nachmittag im Zeichen der transatlantischen Beziehungen
Der Nachmittag des Forums war den transatlantischen Beziehungen und der sicherheitspolitischen Lage Europas gewidmet. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der neuen Partnerschaft zwischen "Neu Denken" und der MSC. Für ihn ist Sicherheitspolitik eines der Felder, in denen "neu denken" heute dringlicher denn je ist. Deutschland habe sich vom Verfechter einer restriktiven Rüstungspolitik zum massiven Waffenlieferanten im Ukraine-Krieg gewandelt. Den Menschen müsse klar sein: Es herrscht Krieg in Europa, mahnte Ischinger.
Im ersten MSC-Panel "Trouble in Paradise" diskutierten unter der Leitung von Horst von Buttlar hochkarätige Experten über die Belastungen in den transatlantischen Beziehungen. Kenneth Weinstein, außenpolitischer Berater von Ex-Präsident Trump, erklärte, Trumps harte Haltung gegenüber Handelspartnern sei eine Reaktion auf das US-Handelsdefizit und die Deindustrialisierung Amerikas.
Merz habe bei Trump exzellent agiert.
Trotz der Einigung mit China, Großbritannien und bald auch Japan bleibe das Verhältnis zur EU angespannt. Weinstein sieht jedoch in Trumps Politik eine Chance für Europa, vom Exportüberschuss zu mehr Investitionen umzusteuern. Das Thema Zölle bleibe offen – ein endgültiger Deal sei noch nicht in Sicht, aber wahrscheinlich. Friedrich Merz, so Weinstein, habe bei seinem Treffen mit Trump „exzellent“ agiert und stehe vor allem für eine klare Haltung in Verteidigungsfragen.
CDU-Politiker David McAllister, Europaabgeordneter, betonte die Bedeutung der USA als wichtigsten Verbündeten Deutschlands und der EU, mahnte jedoch zugleich mehr europäische Eigenverantwortung in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen an. Er warnte vor einem unnötigen Handelskrieg und zeigte sich offen für Verhandlungen. Im Gegensatz dazu kritisierte der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern Trump scharf: Während Weinstein die US-Demokratie als stabil beschrieb, sprach Kern von "faschistischen Zügen" bei Trump und warf ihm vor, von Ablenkungsmanövern zu profitieren. Die Einschätzungen waren deutlich gespalten.
"America First – Europe Home Alone?"
Das zweite Panel der Münchner Sicherheitskonferenz, "America First – and Europe Home Alone?", widmete sich der Frage nach Europas Rolle in der eigenen Sicherheit. Norwegens Finanzminister und Ex-NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, per Video zugeschaltet, warnte vor einer weiteren Eskalation im Ukraine-Krieg und forderte eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens 3,5 Prozent des BIP.
Wolfgang Ischinger sprach von einer beispiellosen Vielzahl gleichzeitiger Konflikte. Thomas Enders, ehemaliger Airbus-Chef, kritisierte die bisherigen sicherheitspolitischen Hoffnungen Europas als Illusion. Die amerikanische Sicherheitsgarantie existiere "nur noch auf dem Papier". Dennoch habe die Bundesregierung lange "geschlafen". Initiativen von Emmanuel Macron zu einer intensiveren Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen seien von Deutschland viel zu lange ignoriert worden.
Europa müsse seine Verteidigungsfähigkeit nun schnell und dauerhaft stärken, um einem möglichen direkten Angriff Putins begegnen zu können. Dabei sei eine Umstellung der Rüstungsindustrie auf eine Kriegswirtschaft unerlässlich – ein Schritt, der nach Putins Eskalation 2022 versäumt worden sei. Rüstungsunternehmerin Susanne Wiegand, die bereits am Vormittag gesprochen hatte, ergänzte, dass eine robuste Industriegrundlage Voraussetzung für nachhaltige Sicherheit sei. Nur so könne Europa seine Verteidigungsfähigkeit langfristig gewährleisten. Das Wirtschaftsforum geht am Samstag in seinen dritten und letzten Tag.