Er lächelt freundlich. „Hallo, ich bin Marc. Geht es dir gut?” Marc ist kein Freund und auch kein gleichaltriger Bekannter, Marc ist Arzt. Was deutschen Gewohnheiten widerstrebt, ist in Spanien ganz normal:Hier wird geduzt, wo es nur geht: Im Büro, im Restaurant, in der Bank oder eben beim Arzt. So ist es im Alltag, das fällt auf Mallorca besonders den deutschen Neuankömmlingen auf.
Und doch: Miquel Rosselló, der sich als Beauftragter für Etikette und Öffentlichkeitsarbeit im Balearen-Parlament für die Einhaltung von Benimmregeln einsetzt, rät: „Kennt man das Gegenüber nicht oder kaum oder ist er oder sie deutlich älter als man selbst oder in einer übergeordneten Position, dann sollte man zunächst beim ‚usted’ bleiben.”
Das gelte für das Gespräch mit dem Arzt ebenso wie mit dem Chef oder unbekannten Menschen auf der Straße. Sein Mitarbeiter Juan Pujol ergänzt: „Das ist die übergeordnete Regel, an die man sich halten sollte, um nicht unhöflich zu erscheinen.” Klingt ja doch fast wie in Deutschland.
Spanienkenner und Buchautor Tobias Büsch widerspricht dem vehement. „In Spanien ist es anders, man duzt sich, das ist einfach so.” Eine Respektlosigkeit sei das nicht, im Gegenteil: „Ich habe oft das Gefühl, dass die Spanier sich unwohl fühlen, wenn man sie siezt. Das erzeugt einen Abstand, der ihnen unangenehm ist.”
Er plädiert daher ganz klar für das „tú” in den verschiedensten Situationen. „Das Duzen ist ein Muss, dem sich auch Deutsche anpassen sollten. Wer einen Streifenpolizisten auf der Straße nach dem Weg fragt, sollte ihn duzen. Genauso den Arzt, den Unidozenten oder Geschäftspartner und den Chef.”
Ausnahmen bilden in seinen Augen nur „die ganz Großen”, sprich: hohe Kirchenvertreter, Konzernchefs oder Adelige. „Und vielleicht der feine alte Herr auf der Straße, der im graumelierten Anzug daherkommt”, fügt Büscher schmunzelnd hinzu. Dass der linksregionale Més-Politiker David Abril im August in einem Brief an König Felipe Seine Majestät duzte, verstieß also zweifelsohne gegen die spanischen Höflichkeitsregeln.
Büscher ist seit Anfang der 1990er Jahre regelmäßig in Spanien unterwegs, Chefredakteur des Onlineportals spanien-reisemagazin.de und wird in großen deutschen Medien immer wieder als Spanienexperte zitiert. Auch Mallorca kennt der Reisejournalist gut. Zwar werde auf der Insel im Vergleich zum spanischen Festland etwas mehr gesiezt.
Doch das sei vor allem für deutschsprachiges Personal in Gastronomie und Hotellerie üblich und weniger für die typischen Mallorquiner im Geschäft um die Ecke. Da wird man beim zweiten Besuch schnell auch mal zum eigenen Sohn („hijo mío”) oder Liebling („cariño”) ernannt, was selbst das „tú” schon fast unpersönlich wirken lässt.
„Das ‚usted’ stammt noch aus dem Mittelalter, genau wie das ‚Señor’. Damals wurden die höheren Stände von den niederen Arbeitern so angesprochen”, sagt Büscher. Heutzutage sei die Anrede im spanischen Alltag schlichtweg untypisch.
Das sieht auch Etikette-Experte Juan Pujol vom Balearen-Parlament ein. „Die traditionellen Verhaltensnormen sind im Wandel.” Ob man diesem Wandel tatsächlich folgen wolle, sei – zumindest im Privatleben – letztendlich jedem selbst überlassen. „Im Zweifelsfall sollte man die Mitmenschen aber immer respektvoll im eigenen Ermessen behandeln und dabei auf das zurückgreifen, was man zu Hause und in der Schule gelernt hat.” Für den gemeinen Deutschen wäre das in vielen Fällen also das „Sie”. Versuchen kann man’s.
Marc in seiner Arztpraxis zumindest hat komisch dreingeschaut, als er das „Können Sie mir sagen, wann ich wiederkommen muss” vernahm und prompt noch einmal betonte: „Duzen wir uns doch, das mache ich mit allen Patienten.”
KLEINE SPRACHKUNDE
Das spanische ”tú” ist rein grammatikalisch betrachtet mit dem deutschen „du” gleichzusetzen. Gleiches gilt für den Plural „vosotros” (im Deutschen: ihr).
- Verwendet man die Siezform „usted” im Singular, so konjugieren die Spanier das Verb mit der Endung der dritten Person Singular. Nur bei der Ansprache mehrerer Personen („ustedes”) wird die dritte Person Plural verwendet.
- Das Lexikon der Königlichen Spanischen Akademie für Sprache definiert, dass durch den Gebrauch des „tú” jegliche höfliche und respektvolle Behandlung wegfalle.
- Das „tú” signalisiert laut Königlichem Lexikon Vertrauen zum Gesprächspartner.
- Übrigens: In großen Teilen Süd- und Mittelamerikas existiert die „ihr”-Form „vosotros” gar nicht. Hier wird stets die Höflichkeitsform „ustedes” verwendet.
(aus MM 38/2015)