So wichtig ist der Tag der Deutschen Einheit
An diesem Donnerstag, dem Erscheinungstag von MM, ist unser Nationalfeiertag. Während manche vor Stolz und Freude strahlen, löst er bei mir und vielleicht anderen im Ausland lebenden Deutschen gemischte Gefühle aus. Dieser Tag verbindet Vergangenheit und Gegenwart, feiert Geschichte – und lässt uns, die fern der Heimat leben, reflektieren, warum wir Deutschland verließen. Diese Gedanken können tief unter die Haut gehen und Heimweh wecken.
Vor ein paar Tagen erst bin ich von einem Kurzurlaub in Deutschland zurück nach Mallorca gekommen. Ein schönes Gefühl, einfach so, mit jedem reden zu können, ohne über die richtige Grammatik oder das treffendste Wort nachzudenken, um sagen zu können, was zu sagen ist. Jeder versteht mich, ich verstehe alle. Zumindest scheint es so. Bei näherem Betrachten kommt es mir allerdings so vor, als hätten mich vier Jahre Mallorca doch schon deutlich verändert und entfremdet.
Auch wenn mein Umzug auf die Insel damals Corona geschuldet war und eher zufällig (plötzlich war es möglich, mit meinen Klienten und Patienten online zu arbeiten), gibt es doch viele Menschen, die hier auf dieser Insel gezielt das Glück suchen, das sie in Deutschland vermisst haben.
Die Entscheidung, auszuwandern, ist selten leicht. Meist war es der Wunsch nach einem neuen Leben, besseren beruflichen Möglichkeiten oder einfach das Bedürfnis, der gefühlten Enge zu entkommen, die ein Land vermitteln kann. Doch so sehr man sich an einem neuen Ort einlebt, ein Teil des Herzens bleibt immer in der alten Heimat verankert. Und je weiter sich das Land, das man zurückgelassen hat, von dem unterscheidet, das man in Erinnerung hat, desto stärker wird die innere Zerrissenheit.
Gerade in den jüngsten Jahren hat die deutsche Gesellschaft zahlreiche Veränderungen durchlaufen. Die Pandemie hat das Leben der Menschen geprägt, alte Gewissheiten erschüttert und neue Unsicherheiten geschaffen. Dazu kommen politische Strömungen, die man mit Sorge beobachtet. Ein wachsender Populismus, eine immer tiefere Spaltung der Gesellschaft, und das Gefühl, dass das Land nicht mehr das ist, was es einmal war – all das beschäftigt auch diejenigen, die längst in der Ferne wohnen.
Von außen ist der Blick oft schärfer, aber auch verzerrter. Die Schlagzeilen, die wir lesen, vermitteln nur Ausschnitte dessen, was tatsächlich vor sich geht. Doch diese Bruchstücke reichen, um das Gefühl der Entfremdung zu nähren. An manchen Tagen fühlt man sich wie ein Gast im eigenen Land, wenn man zu Besuch ist – und doch ist es der Ort, an dem die Wurzeln liegen, an dem Erinnerungen und Geschichten verankert sind.
Psychologisch betrachtet ist Heimweh kein einfacher Schmerz, sondern ein komplexes Phänomen. Es vereint Trauer, Sehnsucht und oft auch Schuldgefühle. Man fragt sich, ob man hätte bleiben sollen, ob es egoistisch war, wegzugehen. Das Gefühl der Entwurzelung kann eine leise, aber beständige Quelle des Unwohlseins sein. Es ist, als würde die Seele immer wieder einen Kompass ausrichten, der jedoch keine klare Richtung mehr zeigt.
Doch warum ergreift uns gerade der 3. Oktober so stark? Vielleicht, weil er ein Symbol der Zugehörigkeit ist, eine Erinnerung daran, dass man Teil von etwas Größerem ist. Ein Nationalfeiertag soll vereinen, aber wenn man im Ausland lebt, wird er zu einem Tag der Selbstreflexion. Was bedeutet es, deutsch zu sein? Wie viel davon trägt man in sich, und wie viel hat man vielleicht schon losgelassen? Die Antwort darauf ist oft ebenso schwankend wie die Realität.
Viele derjenigen, die fern der Heimat leben, haben sich eine Art mentale Landkarte Deutschlands bewahrt – eine Landkarte, die aus dem vertrauten Klang der Sprache, den Erinnerungen an Bratwurst und Glühwein, an den ersten Schultag oder an Spaziergänge durch herbstliche Wälder besteht. Aber diese Landkarte ist statisch, während das wirkliche Land sich weiterentwickelt. Es entsteht eine Kluft zwischen dem Bild, das man von Deutschland hat, und dem, wie es tatsächlich ist. Diese Kluft verstärkt das Heimweh, weil sie das Gefühl vermittelt, dass selbst die Heimat nicht mehr dieselbe ist.
Heimweh wird oft als ein simples Verlangen nach dem „Zuhause» abgetan, doch es ist mehr als das. Es ist das Gefühl, nicht wirklich anzukommen – weder dort, wo man jetzt ist, noch an dem Ort, an den man sich zurücksehnt. Man schwebt zwischen zwei Welten und wünscht sich, sie irgendwie zu vereinen. Der 3. Oktober zeigt uns, dass solche Vereinigung nicht immer einfach ist. Es braucht Zeit, Geduld und manchmal auch Akzeptanz, dass manche Dinge für immer in der Vergangenheit bleiben.
Aber wie kann man damit umgehen? Eine Möglichkeit besteht darin, die Verbindung zur alten Heimat bewusst zu pflegen, aber auch das neue Umfeld vollkommen anzunehmen. Rituale am Tag der Deutschen Einheit – ein deutsches Frühstück, ein Anruf bei der Familie oder ein Glas Riesling am Abend – können helfen, die Lücke zu füllen. Auch das Teilen von Erinnerungen mit den neuen Freunden vor Ort kann einen Teil der verlorenen Verbindung wiederherstellen.
Und manchmal hilft es, sich einfach daran zu erinnern, warum man gegangen ist. Es waren nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch die eigene Entwicklung, die einen getrieben hat. Deutschland hat sich verändert, ja, aber man selbst hat es auch. Vielleicht ist es dieser Gedanke, der am Tag der Deutschen Einheit am schwersten zu akzeptieren ist: Dass die Rückkehr zur alten Heimat nicht wirklich eine Rückkehr wäre, weil man selbst nicht mehr dieselbe Person ist.
So bleibt der 3. Oktober ein Tag, an dem man innehalten und beide Seiten des Lebens würdigen kann – das Alte und das Neue, das Gefühl der Zugehörigkeit und das der Freiheit. Er ist kein Tag der Perfektion, sondern ein Tag der Reflexion. Ein Tag, um über das nachzudenken, was man verloren hat – und was man gewonnen hat.
Denn auch das ist Teil des Lebens im Ausland: Die Gewissheit, dass man zwei Heimaten hat. Eine, in der wir heute unser Leben gestalten, und eine, die tief in uns verwurzelt ist – mit unseren Werten und Traditionen. Und irgendwo dazwischen – genau in der Mitte – liegt der Platz, an dem das Herz sich niederlässt. In diesem Sinne.