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Ayurveda auf dem Prüfstand

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Wie viel fernöstliche Medizin verträgt der westliche Magen?

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen auf einer traumhaften Finca auf Mallorca, irgendwo im Nirgendwo, nur Ruhe und Natur um Sie herum. Die sanfte Oktobersonne wärmt Ihre Haut und Sie sind total entspannt. Alles könnte so idyllisch sein, wenn nicht gerade ein dampfendes Glas mit Ghee und einem Teelöffel Triphala vor Ihnen stünde. „Das hilft», sagt der Ayurveda-Arzt mit einem Lächeln. „Entschlackt den Körper und bringt die Doshas in Balance.» Und während Sie einen Schluck von dem zweifelhaft riechenden Getränk nehmen, fragen Sie sich: Was genau bringt mich hier eigentlich in Balance – und wie schnell kann ich rennen, um nach Hause zu kommen?

So ähnlich geht es mir gerade. Im Grunde ist alles schön, doch muss ich mich mit Geschmäckern und Körpereindrücken beschäftigen, die mich phasenweise eher stressen als entspannen. Das Essen ist sehr gut, aber auch sehr reduziert. Viel Gemüse, wenig von all dem, was ich gerne mag. Und jede Menge Gewürze. Schließlich muss ich mein Verdauungsfeuer anfachen und dazu braucht es eben einfach etwas hiervon und eine Prise davon. Allein all die fremdartigen Bezeichnungen zu lernen, würde schon Tage dauern. Dann die Körperanwendungen. Ich liebe es, mit viel Öl massiert zu werden. Wenn aber dann das Öl mit scharfen Gewürzen versetzt in die Nase geträufelt wird, hört der Spaß auf und ich muss mich zusammenreißen und daran erinnern, warum ich das alles mitmache.

Ayurveda ist seit einigen Jahren der neue Trend unter gesundheitsbewussten Europäern. Statt Pillen gibt es nun Kräuterpasten, statt Antibiotika eine ordentliche Portion Kurkuma und zum Frühstück? Warmes Wasser mit Zitrone und einer Prise Cayennepfeffer. Klingt erst mal exotisch und gesund – bis einem der Magen brennt wie der Vulkan Stromboli. Tatsache ist, die indische Heilkunst ist in ihrer Heimat ein bewährtes Konzept. Sie ist so tief verwurzelt wie Yoga und gehört dort zum Leben wie das tägliche Curry. Aber passen ihre Prinzipien auch zu uns?

Indische Gewürze wie Koriander, Bockshornklee und Asafoetida (oder auch Teufelsdreck, nomen ist omen) sind hierzulande nicht gerade der Renner im Küchenschrank. Und wenn dann auch noch der ayurvedische Heilkundige Ihres Vertrauens mit Brahmi-Tee um die Ecke kommt und Sie bitten will, drei Mal täglich heißes Sesamöl zu trinken, denken Sie vielleicht (mit Recht): „Das soll ich jetzt wirklich runterkriegen?»

Es wäre ja alles halb so wild, wenn Ayurveda ausschließlich auf Tee und Massagen setzen würde. Leider sind es oft die fertigen Kräutermischungen und Tabletten, die Probleme bereiten. Studien zeigen, dass in vielen ayurvedischen Produkten aus Indien und Sri Lanka regelmäßig Schwermetalle wie Blei, Quecksilber und Arsen gefunden werden. „Die sind doch verrückt!», möchte man rufen. Aber diese Metalle werden in der traditionellen „Rasa Shastra»-Heilkunde tatsächlich bewusst eingesetzt, um Krankheiten zu heilen. Ein guter Plan für Inder, die damit aufgewachsen sind. Für uns hingegen ist das so, als würde man sein Auto mit Hafermilch statt Benzin betanken – es klingt nach einer interessanten Idee, aber am Ende bleibt das Auto trotzdem stehen, und man fragt sich, was wohl schiefgelaufen ist.

Besonders gefährlich wird es, wenn man sich die Präparate ohne Kontrolle aus dem Netz bestellt. Denn was nach „Ganzheitlicher Entgiftung» klingt, entpuppt sich schnell als das genaue Gegenteil für Leber und Nieren. Und anstatt sich wieder fit und voller Energie zu fühlen, sitzt man in der Notaufnahme und erklärt dem Arzt: „Ja, ich dachte, Arsen hilft gegen Müdigkeit …»

Doch Ayurveda ist längst nicht mehr nur ein Import aus Indien. Auch hier bei uns, beispielsweise im beschaulichen Allgäu und anderswo, sprießen Ayurveda-Zentren wie Pilze aus dem Boden. Und wie überall, wo Trend auf Tradition trifft, wird gerne angepasst und modernisiert. Da gibt es dann statt Chyavanprash (eine indische Kräutermarmelade) plötzlich Karottensaft mit Fenchel, und statt einer ayurvedischen Ganzkörper-Ölmassage wird man sanft mit heimischen Kräuterölen eingerieben. Das schmeckt vielleicht besser, aber ist es noch echtes Ayurveda oder schon „Wellness mit einem Hauch von Indien»?

Ein bisschen Ayurveda im Allgäu fühlt sich für manche so an, als hätte man ein indisches Curry ohne Chilis bestellt. Es sieht zwar schön aus, aber es fehlt der Pep, der es ausmacht. Die Essenz von Ayurveda – die komplexe, jahrtausendealte Philosophie – geht dabei leicht verloren.

Die Frage bleibt: Warum suchen so viele von uns plötzlich in Indien oder Sri Lanka nach der perfekten Lösung für unsere westlichen Probleme? Ist es die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, die uns fehlt, weil wir die Balance zwischen Arbeit und Privatleben längst aus den Augen verloren haben? Wünschen wir uns heimlich, dass eine exotische Weisheit unser Chaos ordnet und unsere chronischen Rückenschmerzen, unsere extreme Erschöpfung oder den ständigen Kopfschmerz verschwinden lässt? Oder liegt es daran, dass wir die Nase voll haben von der Schulmedizin und uns ein wenig Ashwagandha (Schlafbeere) als das gesündere Placebo vorkommt?

Manchmal scheint es fast, als sei Ayurveda für uns das, was für Inder vielleicht der Schwarzwald wäre: ein faszinierendes Kuriosum, das wir gern kennenlernen, aber nie ganz verstehen. Statt Kuckucksuhren eben Ghee-Trunk (Butterschmalz). Statt Schwarzwälder Kirsch eben Kichererbsen Laddus, statt Räuchermännchen mit Tannenduft eben Räucherstäbchen mit Weihrauch.

Ayurveda ist eine wertvolle Heilkunde, die in den richtigen Händen tatsächlich viele Beschwerden lindern kann. Aber genauso, wie wir nicht plötzlich anfangen würden, täglich Marathon zu laufen, nur weil Bewegung gesund ist, sollten wir auch mit Ashwagandha und Brahmi vorsichtig umgehen – denn auch das Richtige im Übermaß kann den Körper aus dem Gleichgewicht bringen. Die Balance – davon spricht Ayurveda immer – ist entscheidend. Und wenn es dann eben bedeutet, dass wir uns statt einem indischen Wundermittel eine Tasse Fencheltee gönnen, weil unser Magen sonst streikt, dann ist das eben so.

Manchmal liegt die beste Medizin nicht in der Ferne, sondern in kleinen, heimischen Dingen. Vielleicht sogar im Kräutergarten hinterm Haus. In diesem Sinne.

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