Die weichen, süßen Marshmallows landen in der Pfanne. Rafaela Carrasco erhitzt sie und rührt sie so lange um, bis sie zu einer cremigen Masse verschmelzen. Dann landen knusprige Rice-Crispies, kleine Reis-puffs, die Kinder gerne zum Frühstück verspeisen, in der Masse. „Das gibt der Creme Halt und Konsistenz“, erzählt sie, „für das spätere Modellieren.“
Dass daraus am Ende der bitterböse grinsende Jack Nicholson in dem Klassiker „The Shining“ wird, denkt man zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Rafaela Carrasco aus Alcúdia ist die Schöpferin fantastischer Torten. Unter ihren Händen entstehen kleine Kunstwerke aus viel Zucker. Fabelwesen wie die voluptuöse Krake in Frauengestalt der Ursula im Steampunk-Look, filigrane Statuen griechischer Götter mit Marmoreffekt oder düstere Erdhexen.
Ihre Torten basieren häufig auf einem weichen Biskuitkuchen als Basis, gefüllt mit Creme aus Schokolade, Vanille oder anderen Geschmäckern. Häufig aber sind ihre essbaren Kreationen vor allem für das Auge bestimmt. Dann kann es schon mal vorkommen, dass das Innere einer schokoüberzogenen Statue aus Draht ist. Reinbeißen eher nicht empfohlen!
Die aus Sevilla stammende Frau hat sich das Wissen in Kursen angeeignet. Weltweit gibt es in der Community der Zuckerbäcker Wettbewerbe und sogenannte Challenges mit bestimmten Themen. Dieser Zweig der kreativen Bäckerei ist beliebt, in Youtube-Videos erklären vorwiegend Frauen, wie man filigrane Röschen aus formbarer Schokolade kreiert oder bombastische Prinzessinnenröcke aus Fondant-Masse gestaltet. Fondant besteht aus Wasser, Glukosesirup und Saccharose, die nach dem Aufkochen abkühlt und dann zu einer gut formbaren Masse wird, ähnlich wie Knete. Oft ist sie bereits in der entsprechenden Farbe in Fachgeschäften oder online zu kaufen.
„Die eigentliche Arbeit sind die ersten Schritte bei der Umsetzung einer Idee“, findet Carrasco. „Ich nehme gerne an Wettbewerben teil, denn da kann ich mich weiterentwickeln.” Diese haben oft ein Thema. Bei einer Challenge mit dem Titel „Royal“ ging es darum, Gestalten aus einem Königshaus darzustellen. „Als Spanierin wollte ich gerne jemanden aus der spanischen Dynastie in Zuckerguss kreieren.“ Dazu vertieft sich die Kuchenkünstlerin in Bücher oder häufig ins Internet, recherchiert, druckt aus oder lässt sogar mal ihren Mann, der Comiczeichner ist, Entwürfe anfertigen. Am Ende gleicht ihre Wohnung einem kleinen Atelier. Überall hängen Ausdrucke und Entwürfe der Person oder Figur, von rechts, links, oben unten. „Ich entschied mich für Felipe den IV. aus dem Hause Habsburg. Kein Schönling, aber gerade das reizte mich daran. Die leicht langgezogene Hakennase und der etwas dröge Gesichtsausdruck erforderten viel Fingerspitzengefühl“, erzählt sie.
Das „besonderes Gesicht” von Felipe IV. reizte Rafaela Carrasco.
Ist die Idee geboren, fängt sie an und rollt, knetet und pinselt mit allerlei kleinen Spezialwerkzeugen oder einfach mit den Händen die Fondantmasse oder Modellierschokolade. Viele ihrer schokoüberzogenen Figuren malt sie zusätzlich noch an. Dazu benutzt Rafaela Carrasco eine Mischung aus essbarer Trockenfarbe, die sie mit etwas Alkohol vermischt. Das kann Wodka oder Spezialalkohol mit weniger Zucker sein. „Auch für Kindertorten kann man das verwenden, da es vollständig verdunstet“, versichert sie.
Auf eine Torte ist sie besonders stolz: die weibliche Meereshexe Ursula aus dem Disneyfilm „Die kleine Meerjungfrau“. Mit menschlichem Oberkörper und dem Unterkörper einer Krake, sorgt Ursula für viel Unruhe in den Meerestiefen. Diese Comic-figur zu kopieren, wäre fast schon zu einfach gewesen. Bei dem Wettbewerb lautete die Aufgabe: Ursula im Steampunk-Look darstellen, einer literarischen Strömung aus den 1980ern, die sich sogar zur Subkultur entwickelte. Das hieß, Elemente des Retro-Looks mit viktorianischem Zeitalter verknüpfen. Rafaelas Torten-Ursula enthielt dementsprechend einen coolen mit Metallösen versehenen Rock, derbe Ellenbogenschoner und ein aufreizendes Bustier.
So eine Torte braucht Zeit. „Wenn ich täglich sechs Stunden daran arbeite, kann ich einen Kuchen in einer Woche fertigstellen.“ Was jetzt nur noch ein geliebtes Hobby ist, war zwischenzeitlich Teil ihres Berufs. Mit einer Bäckerei machte sie sich mit ihrem Ehemann Jesús Enrique selbständig, gab sie nach einiger Zeit aber wieder auf. Für gute Freunde oder ganz besondere Anlässe stellt sie aber immer noch Torten her.
Als sie den Laden auflösten, stand „Jack Nicholson“ noch im Schaufenster und blitzte böse mit den Augen. Ein Kunde kam täglich vorbei. Als er erfuhr, dass der Laden schließen würde, wollte er unbedingt den Zuckerbösewicht kaufen. Für einen Sonderpreis durfte er ihn mit nach Hause nehmen. Zirka 150 Euro gab er Carrasco dafür. Ein Schnäppchen. Je nach Größe und Aufwand kostet ein solches Kunstwerk 200 bis 250 Euro.
Essen möchte man so einen tollen Kuchen vor lauter Respekt oft nicht mehr. Auch „Jack“ lächelt wahrscheinlich jetzt ewig von einer Kommode böse-zuckrig auf seinen Käufer herab.