Eswar ein Ort wie aus der Welt gefallen. Als es die ersten deutschsprachigen Urlauber im Jahr 1955 in das Fischerdorf Cala Figuera verschlug, gab es dort noch keinen Strom. Das Wasser wurde von Tankwagen in Zisternen gegossen, die Straßen waren unasphaltiert und die unter der Fuchtel des klerikal-faschistischen Franco-Regimes stehenden Einwohner staunten fassungslos Bauklötze, als sie blonde Frauen den seinerzeit in Mitteleuropa beliebten, aber im keuschen Spanien verpönten Rockn-Roll tanzen sahen.
Wie es damals in dem heute gar nicht mehr so stillen Ort mit den zwei an ausgestreckte Finger erinnernden langgestreckten Buchten zuging, beschreibt die an einem Gymnasium tätige Musiklehrerin Francesca Suau Artigues in einem Buch. Dieses ist auf Katalanisch schon zu haben und soll im September auch auf Deutsch erscheinen.
„Wollte eine Frau damals die paar Kilometer nach Santanyí laufen und hatte kurze Hosen an, so musste sie sich am Ortsrand einen von einem Helfer des Bürgermeisters zur Verfügung gestellten Rock, der die Knie bedeckte, anziehen.” Das habe eine bischöfliche Kommission für Rechtgläubigkeit so vorgeschrieben. Kirche und Staat seien damals nunmal als eine autoritäre Einheit aufgetreten.
„Um die ersten Bikinis zu sehen, fuhren junge Männer kilometerlang durch die Landschaft”, so die Autorin, deren Vorfahren über viele Generationen aus der Gegend stammen, gegenüber MM. Habe eine Touristin abends allein zum Briefkasten gehen wollen, so sei sie begleitet worden, um sie vor zudringlichen Männern zu schützen. „Und war es mal nötig, nach Deutschland zu telefonieren, so ging das nur ab Palma.”
Suau Artigues schildert anhand der Erfahrungen einer Österreicherin und einer Deutschen, Isabel Dietz und Sigrid Burow, wie der Tourismus in dieser fernen Vergangenheit ganz langsam zum Laufen kam.
„Es war ein in Bonn beheimateter Reiseveranstalter, der damals erste Studenten auf die Insel schickte. Man fuhr im Bus tagelang durch Frankreich, um dann in Barcelona auf die Fähre zu steigen.” Die Anwesenheit der Fremden wurde von den Insulanern mit Zurückhaltung, Freundlichkeit und auch etwas „Bauernschläue” und anschwellendem Geschäftssinn zur Kenntnis genommen. Nach einem einzigen Hotel mit getrennten Großräumen für Männer und Frauen entstanden immer mehr Herbergen und Kleinbetriebe wie Wäschereien, die mehr schlecht als recht funktionierten. „Wenn jemand in einem Restaurant Paella essen wollte, so musste erst einmal ein Huhn gefangen werden”, so Francesca Suau. Schmuggelgut hätten die oft als schlitzohrig bezeichneten Mallorquiner gern unter den Betten deutscher Frauen deponiert, weil die allgegenwärtige Guardia Civil so ein Zimmer niemals durchsucht hätte.
Auch erste Tanzlokale wie die legendäre, unter Kiefern gelegene „Mondbar” entstanden. Mit aufziehbaren Grammophonen wurden spanische Hits wie „La Cucaracha” und „Pepita de Mallorca” sowie deutsche Lieder wie „An der schönen, blauen Donau” gespielt, und dies unter damals handelsüblichen Petromax-Petroleumleuchten. Die für den Schwof nötigen Getränke konnten nur in Truhen mit Eisblöcken kühlgehalten werden. Auch das Glenn Miller Orchestra, Edith Piaf und Nat King Cole kamen damals mit ihren bekannten Songs im entlegenen Cala Figuera zu Ehren. Als die neue Pension „Pontas” und auch andere Lokalitäten 1957 erstmals abends für ein paar Stunden Strom hatten, stieg man auf modernere Plattenspieler um.
Nach den ersten Jahren gab es gewisse Fortschritte: Gäste wurden in einem klapperigen VW-Bus am damaligen Flugplatz Son Bonet in Palma direkt auf dem Flugfeld empfangen, wo Propellerflugzeuge aus Barcelona landeten. Als im Jahr 1958 eine Leiter an die Mole angebracht wurde, um den Touristen den Zugang zum Meer zu erleichtern, galt das als fast revolutionärer Akt.
„Souvenirläden und das, was mit dem massifizierteren Tourismus einher ging, entstanden erst Jahre später”, so die Buchautorin, die ihr Werk während der Pandemie fertigstellte. „Dann wurden auch erste Ausflüge etwa nach Sa Calobra oder Valldemossa angeboten.” Einige der wenigen Autobesitzer des Ortes benutzten ihre angejahrten Fahrzeuge dafür, um sich etwas dazuzuverdienen. Auch zu Stierkämpfen in Palma wurden Bundesbürger gebracht, die Reaktionen fielen entsprechend entsetzt aus. Und es traten erste Orchester in Hotels auf. Zudem nahm eine weitere Entwicklung ihren Lauf: Im Dorf erinnert man sich laut der Autorin noch heute an einen der ersten sogenannten „Latin Lover”, die es gezielt auf mitteleuropäische Frauen abgesehen hatten. Der Mann namens Pau habe sich nur allzu gern im Torerokostüm neben einem schwarzen Kunststier auf Rädern ablichten lassen, der damals in einer Bar stand.
In dem Buch „Cala Figuera (1955-1965); Qui necessita un cinema quan està de vacances?” („Wer braucht ein Kino, wenn er im Urlaub ist?”; Verlag S’Estret des Temps) wird anekdotenreich dargestellt, wie verhalten und leutselig die ersten Tourismusjahre nach dem Zweiten Weltkrieg vergingen. Das Anlaufen dieser Branche gestaltete sich zunächst eher langsam, die industriellen Züge kamen erst viel später hinzu, dann aber mit einer fast raketenartigen Beschleunigung und Diversifizierung.
Die Erlebnisse in jener Zeit, wo es im kleinen Santanyí noch eine eigene Zeitung gab, hören sich heutzutage wie ein Widerhall von einem anderen Stern an. Damals, als die Begegnung der Kulturen scheu, aber immerhin zustande kam, war Bequemlichkeit quasi inexistent, die Freuden waren aber groß. Etagenklos waren üblich, wem es nach Schuhwerk gelüstete, konnte für ein paar Peseten widerstandsfähige „Espadrilles” erstehen, mit denen man auf den Erdstraßen den Staub aufwirbelte.
Die kleinen Freuden häuften sich und bildeten ein Sammelsurium an faszinierenden Erfahrungen. So etwa erinnern sich laut der Buchautorin noch einige ältere Bürger und Urlauber daran, wie etwa eine zu einem Hotel gehörende Schäferhündin Badewillige immer an eine wenig gefährliche Stelle der Steilküste begleitete, stundenlang wartete, und die Gäste wieder zurückbrachte.
Dass es die Österreicherin Sigrid Burow und die Deutsche Isabel Dietz, die inzwischen ein sehr hohes Alter erreicht haben, immer wieder aufs Neue in jenes verträumte Fischerdorf im damals kulturell in einer völlig anderen Epoche verharrten Spanien zog, verwundert daher nicht im mindesten. „Sie sind dem Ort immer verbunden geblieben”, so die Autorin des Buchs.