Vergeblich versucht der Mann mit dem zerzausten Bart und der tief in die Stirn gezogenen Wollmütze, von dem kaum mehr als seine zusammengekniffenen, glasigen Augen zu sehen sind und der auf einer Matratze unter Decken kauert, mit seiner Krücke eine Plastikschale Reis mit Hackfleischbällchen zu sich heranzuziehen, die ihm irgendjemand mitleidig auf die Gehsteigplatten gestellt hat. Der gute Spender wird sich wohl nicht näher herangetraut haben an den Obdachlosen, der hier, ein paar Schritte neben dem Eingang zum unterirdischen Hauptbahnhof in Palma, seit Monaten vor sich hin vegetiert und von dem ein beißender Geruch ausgeht.
Ringsherum liegt Abfall verstreut und die Flecken auf dem Boden lassen erahnen, dass der Mann sich kaum noch von hier fortbewegt, auch nicht, um seine Notdurft zu verrichten. Jede Bewegung bereitet ihm sichtlich Schmerzen. Schließlich nähert sich ein Passant und rückt ihm das Essen etwas näher. Ob er denn nicht die Hilfe vom Sozialamt wolle, fragt er. Die Antwort: „Ich will allein sein.”
In Ca l’Ardiaca, Mallorcas wichtigster, an Palmas nördlichem Stadtrand gelegener Obdachlosenunterkunft, startet derweil eine seit Monaten geplante, großangelegte Aktion: An diesem Abend sollen alle Menschen in Palma, die keine feste Bleibe haben, gezählt und befragt werden. „Das Ziel ist, die Obdachlosigkeit zu quantifizieren und ihre soziodemographischen Merkmale zu ermitteln, um sie sichtbar zu machen und die Politik an die realen Bedürfnisse anzupassen”, heißt es beim mallorquinischen Sozialamt zur Erklärung. 200 Freiwillige haben sich gemeldet und machen sich nun jeweils in kleinen Gruppen auf den Weg hinaus in die Nacht, um die einschlägigen Orte abzuklappern.
Eines der Teams ist rund um die prächtige Einkaufsstraße Jaume III unterwegs, an der sich Schuhläden, Boutiquen und Juweliere aneinanderreihen. Der Start zur geplanten Zählaktion verzögert sich für sie allerdings erheblich: Es ist schlicht und einfach kein Parkplatz in Innenstadtnähe zu finden. Ausgerechnet an diesem Abend wird in Palma nämlich die Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet und tausende Schaulustige wollen sich das festliche Spektakel nicht entgehen lassen. Die Gegend wimmelt nur so von Menschen: Familien mit kleinen Kindern, lärmende Cliquen Jugendlicher, Pärchen in romantischer Abendstimmung.
Zwei ältere Damen betrachten die Preisliste eines Luxusfriseurs. 75 Euro kostet hier der Haarschnitt. Auf der Terrasse eines schicken Hotels wärmt ein Heizstrahler zwei junge Leute, die an Cocktails nippen. Ein paar Schritte weiter bewirbt ein Immobilienbüro eine Villa in Son Vida. Preis: 12,9 Millionen Euro. Nur von den Obdachlosen, die hier sonst in den Vorräumen der Bankfilialen Schutz vor der Witterung suchen, fehlt jede Spur. „Kein Wunder, wenn so viele Leute unterwegs sind”, sagt einer der Freiwilligen.
Sechs Obdachlose sind den Sozialarbeitern, die Tag für Tag auf den Straßen Palmas unterwegs sind, in dieser Gegend der Innenstadt bekannt. Mit einem Fahrzeug des Roten Kreuzes dreht die „mobile Einheit für soziale Noteinsätze” jede Nacht ihre Runde. Sie gehört zur Abteilung für soziale Inklusion beim Inselrat. Deren Leiter Sebastià Cerdà befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema Obdachlosigkeit auf der Insel. „Es ist sehr schwierig, die Betroffenen von der Straße zu holen”, sagt er. Die mallorquinische Sozialbehörde setze derzeit auf zwei Strategien. Zum einen sei da das Netz öffentlicher und privater Einrichtungen, in denen Menschen ohne festen Wohnsitz unterkommen können. Inselweit gebe es hier 450 Plätze, die meisten davon in Ca l’Ardiaca, wo es 98 Betten gibt.
Es ist kurz vor 20 Uhr und vor der noch verschlossenen Tür des Gruppenschlafsaales hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Hier gilt: Es soll möglichst keine Hürden geben. Zwar ist der Akohol- und Drogenkonsum in den Räumlichkeiten der Einrichtung verboten, was auf der Straße geschieht aber wird nicht kontrolliert. Und so geht es häufig hoch her in Ca l’Ardiaca. Nicht umsonst gibt es einen privaten Sicherheitsdienst, der für Ordnung sorgen soll. Der imposante Wachmann muss dann auch tatsächlich einschreiten, als plötzlich jemand laut zu schreien anfängt und völlig außer sich gerät. Der Mann, der sich offenbar ungerecht behandelt fühlt, ist nur mit Mühe zu besänftigen. Kürzlich machten Medienberichte die Runde, in denen von einer Bettwanzenplage in der Einrichtung die Rede war. Angesichts der Zustände in Ca l’Ardiaca ziehen viele Obdachlose das Leben auf der Straße vor.
Auch deshalb verfolgt man beim Inselrat seit 2018 verstärkt eine andere Strategie, die in vielen Städten bereits seit Jahren erfolgreich funktioniert: Housing First. Dahinter steckt der Gedanke, dass, will man die Leute tatsächlich von der Straße holen und in die Gesellschaft integrieren, an erster Stelle eine Wohnung stehen muss. 100 Personen können auf diese Weise inselweit derzeit untergebracht werden. Laut Sozialamt hatten bereits nach einem Jahr 90 Prozent der Nutzer ein regelmäßiges Einkommen. Laut Sebastià Cerdà ist Housing First nicht nur die erfolgversprechendste Strategie im Kampf gegen Obdachlosigkeit, sondern auch günstiger als etwa der Betrieb spezieller Unterkünfte wie Ca l’Ardiaca. Und das trotz der hohen Immobilienpreise auf der Insel und der angespannten Lage auf dem Mietmarkt.
„Klar ist aber: Wir haben nicht genügend Platz für alle”, sagt Cerdà. Selbst wenn es gelingen sollte, alle Obdachlosen dazu zu bewegen, sich auf eine Zusammenarbeit mit den Sozialbehörden einzulassen, könnten sie nicht alle untergebracht werden. Derzeit seien alle Plätze belegt. Zwar liegen die Ergebnisse der nun durchgeführten Zählung noch nicht vor, im Jahr 2019 aber trafen die Freiwilligen 225 Personen auf den Straßen an, fast 80 Prozent davon waren Männer. Die Gesamtzahl der Obdachlosen dürfte nun höher liegen, da sind sich alle einig. Vor allem die Corona-Pandemie nämlich hat viele Menschen in finanzielle Not gestürzt und aus der Bahn geworfen.
Laut Sebastià Cerdà sind unter den Personen ohne feste Bleibe fast alle Altersgruppen sowie viele Nationalitäten vertreten. Relativ neu dabei seien junge Nordafrikaner, die in Flüchtlingsbooten übers Meer nach Mallorca gelangen. „Die meisten von ihnen sehen die Insel nur als Zwischenstation”, sagt er. „Sie reisen eigentlich alle weiter nach Frankreich.” Manche aber blieben hängen und landeten auf der Straße. Auch Deutsche und Osteueropäer seien in vergleichsweise großer Zahl vertreten. Häufig spielten psychische Probleme oder Drogenabhängigkeit eine Rolle.
Bei der Zählung im Jahr 2019 waren die allermeisten Obdachlosen in Palma Spanier, gefolgt von Marokkanern, Polen, Bulgaren und Deutschen. Die meisten von ihnen übernachteten entweder auf der Straße, auf Plätzen, in Parks, in den Vorräumen von Bankfilialen, in verlassenen Gebäuden oder Hauseingängen. Zuletzt hat aber auch die Zahl der Barackensiedlungen zugenommen, wie man beim Sozialamt erklärt. Diese gibt es in Palma vor allem unter den Brücken der Ringautobahn Via de Cintura. Aber auch mitten im Zentrum, auf dem Gelände des ehemaligen Busbahnhofs, hausen seit Jahren Menschen in provisorisch zusammengezimmerten Verschlägen.
Im Parc de Sa Riera wiederum, dem größten der städtischen Parks, gibt es eine ganze Reihe solcher Baracken, in denen mehr als ein Dutzend Personen dauerhaft leben. Ihren Unterhalt verdienen sie sich zum überwiegenden Teil durch das Sammeln von Altmetall. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Zählung von 2019 war die große Zahl Obdachloser im fortgeschrittenen Alter: Mehr als die Hälfte der Befragten, die hier eine Angabe machten, waren über 50.
Auch beim deutschen Konsulat hat man immer wieder mit Obdachlosen zu tun. Wieviele deutsche Staatsbürger auf Mallorca betroffen sind, könne man aber nicht mit Gewissheit sagen, heißt es. Vizekonsul Waldemar Kohls, der für solche Hilfsfälle zuständig ist, schätzt, dass es inselweit 80 Personen sein dürften, wobei dazu auch diejenigen gehörten, die nur kurzfristig und vorübergehend in eine Notlage gerieten und auf der Straße landeten. In der Coronazeit, als viele kleine Betriebe wegen der Pandemie-Auflagen pleitegingen, stieg die Zahl der deutschen Obdachlosen deutlich an – um etwa 50 Prozent, so Kohls. Mittlerweile habe sich das jedoch wieder ausgeglichen.
Meist bekomme das Konsulat nur dann Kenntnis von einem obdachlosen Deutschen auf der Insel, wenn dieser ausgeraubt worden sei und nun ein neues Ausweisdokument brauche. In vielen Fällen hätten die Personen bereits in Deutschland keine Wohnung gehabt. „Oft haben sie auch noch weitere Probleme, wie etwa eine Krankheit, Drogenabhängigkeit oder aber sie sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten”, sagt Kohls. Hin und wieder gebe es Anfragen, ob das Konsulat dafür sorgen könne, dass deutsche Sozialleistungen gezahlt werden. Das aber sei nicht möglich. Laut EU-Recht sind die spanischen Sozialbehörden zuständig, auch, wenn es mitunter schwierig sein könne, vom hiesigen Sozialnetz aufgefangen zu werden. Insbesondere, wenn die Betroffenen erst seit Kurzem auf der Insel leben und nie in die spanische Sozialversicherung eingezahlt haben.
Selbst die Übernahme der Kosten für ein Rückflugticket in die Heimat durch das Konsulat sei die Ausnahme. Lediglich dreimal sei das seit 2020 vorgekommen, so Kohls. In solchen Fällen müssten nämlich zunächst die Angehörigen ausfindig gemacht werden. Erst wenn diese sich weigerten, die Kosten zu übernehmen, könne das Konsulat einen entsprechenden Antrag beim Auswärtigen Amt stellen. Aber ohnehin wollten längst nicht alle Betroffenen zurück nach Deutschland.
Die Erfahrung hat auch Roland Werner gemacht. Der Gründer der Herztat-Stiftung, die sich vor allem um in Not geratene Senioren kümmert, hat auch immer wieder mit Obdachlosen zu tun. „Wir versuchen zu helfen, wenn etwas an uns herangetragen wird”, sagt er. Seit Jahren schon hat er Kontakt zu drei Personen, die etwas außerhalb Palmas in einem Zelt und einer Höhle hausen – zwei Männer und eine Frau. Die Drei lebten dort in einer Art „Obdachlosen-WG” und hätten sich einst bewusst entschieden, Deutschland den Rücken zu kehren. „Sie leben von der Hand in den Mund”, sagt er. „Was es abends zu essen gibt, wissen sie am Morgen noch nicht.” Mal bekämen sie beim Betteln vor einem nahegelegenen Supermarkt zwei bis drei Euro zusammen, an einem guten Tag auch mal zehn Euro.
„Aus meiner Sicht wollen sie so leben”, sagt Werner. „Sie wollen bewusst kein normales Leben führen.” Vor einiger Zeit habe sich beispielsweise die Möglichkeit abgezeichnet, eine Sozialwohnung zu bekommen. Die Drei aber hätten das abgelehnt. „Sie wollen selbständig sein.” Andernfalls müssten sie sich an Regeln halten und würden sich von anderen abhängig machen. „So wie es ist, können sie leben, wie sie wollen.”
Das hatte auch der Obdachlose an Palmas Hauptbahnhof vor. Dann aber kam die Adventszeit und da nur ein paar Schritte von seinem Lager entfernt jetzt Weihnachtsmarkt ist, wollte man ihn dort nicht länger dulden. Im Beisein der Polizei wurde er ins Krankenhaus abtransportiert, berichtet ein Wachmann, während er das fröhliche Treiben, die strahlenden Gesichter und die vielen bunten Lämpchen ringsherum betrachtet.