Da ist der „Ballermann”, ursprünglich eine unscheinbare Strandbude namens „Balneario” an der Playa de Palma, heute ein wahres Party-Mekka, das vor allem Deutsche regelmäßig in Heerscharen anzieht, für die exzessives Feiern nicht nur zum Urlaub dazugehört, sondern ihn das essenziell ausmacht. Der schöne Strand mit karibischen Anleihen ist bestenfalls schmückendes Beiwerk und wird meist nur alkoholkomatös zur Rekonvaleszenz genutzt, bis der nächste Party-Abend hereinbricht und im Bierkönig, Megapark und Co. so lange so viel gesoffen wird, bis die grobmotorischen Fähigkeiten kaum noch für den Weg zurück ins Hotel reichen. Und je mehr der Alkoholpegel jeden Abend aufs Neue steigt, desto weiter sinkt die Hemmschwelle. Seit Jahren bemüht man sich seitens der Inselregierung, den Geist von El Arenal zurück in die Bier-Flasche zu zwingen. Allerlei Verordnungen mit hohen Bußgeldern wurden erlassen, doch die Massen der feierwütigen Party-Urlauber zeigten sich davon bislang sichtlich unbeeindruckt. So klein das Epizentrum der Party-Exzesse im Vergleich zum Rest der vielfältigen Insel auch ist, so weitreichend prägt es ihr gesamtes Image.
Dann sind da die mehr als 20 Golfplätze von höchstem internationalen Standard, zahlreichen Gourmet-Tempel, Yachthäfen und Luxushotels und nicht zu vergessen die Villen der wirklich Reichen, die sich an den Steilküsten aufreihen oder diskret im Hinterland der Insel liegen. Was die Dichte der Restaurants mit mindestens einem Michelin-Stern angeht, kann es die Insel problemlos mit Paris, Tokio oder San Francisco aufnehmen. Die Größe so mancher Yacht in Häfen wie Puerto Portals wäre auch in Monaco oder auf Capri beeindruckend.
Also eine friedliche Koexistenz von Currywurst und Bier mit Kaviar und Champagner? Fragt man die Vertreter der jeweiligen Fraktion, gibt es auf die Frage ein ganz klares Nein. Sie lassen gegenseitig kein gutes Haar aneinander. Da die prolligen Sauftouristen, die das Image der Insel ruinieren. Dort die versnobten Schnösel, die die Preise in die Höhe treiben und jeden Bierhahn entlang der Schinkenstraße am liebsten für immer zudrehen würden.
So weit, so zu einfach.
Auch das Zahnarztehepaar aus Baden-Baden ist der Nouvelle Cuisine und dem distinguierten Pläuschchen über die letzte Golfrunde an der Champagnerbar in Puerto Portals mal überdrüssig und schließlich gibt man dem Drang, auch mal die Sau rauszulassen, nach. Dann stehlen sie sich inkognito zum Ballermann. Das edle Polohemd von Ralph Lauren wird getauscht gegen ein namenloses T-Shirt, am besten mit mutmaßlich lustigem Aufdruck, und die weiße Leinenhose muss einer abgewetzten Jeans weichen, am besten mit Löchern, wie man es bei den eigenen Kindern nur mit Verachtung quittiert. Dann wird der Hemmschwelle der Kampf angesagt - mit Erfolg. Am nächsten Tag im Golf-Clubhaus wird dann dieses „einfache” Vergnügen der Massen wieder abschätzig belächelt und als notwendiges Übel der Tourismusindustrie bestöhnt.
Nach dem dritten Filmriss, halb verschlafenen Tag und Brummschädel in Folge, erwacht bei vielen auch noch so hartgesottenen Partygängern in El Arenal die Neugier auf den Rest der Insel und sie wagen sich hinaus, lassen „ihre” Playa hinter sich, erkunden per Bus oder Mietwagen die Insel und entdecken, was sie bislang alles verpasst haben.
Kurzum: Es ist eine Hassliebe, die Mallorca in der Balance hält. Die Erkenntnis, dass das echte Mallorca weit über den Rand eines Bier- oder Champagnerglases hinausreicht, führt oft zu einem unerwarteten Wandel in der Einstellung vieler Urlauber zu „ihrer” Insel. Plötzlich werden die stillen Dörfer im Tramuntana-Gebirge, die malerischen Olivenhaine und die abgelegenen Buchten, in denen das Wasser in allen Blautönen schimmert, zu den neuen Sehnsuchtsorten. Es sind diese Kontraste, die die Insel so besonders machen. Der Duft von frisch gegrilltem Fisch und Meeressalz, der in Port de Sóller in der Luft liegt, wo Einheimische wie Touristen die idyllische Hafenpromenade entlang flanieren, steht im krassen Gegensatz zu dem süßlichen Geruch von verschüttetem Bier und Sonnencreme am Strand von El Arenal. Während in den internationalen Gourmet-Restaurants sorgfältig arrangierte Teller den Jetset begeistern, freuen sich die Gäste im „Deutschen Eck” über einen Sauerbraten, wie bei Muttern.
Die Geschichte Mallorcas, gezeichnet von Künstlern wie Miró, die sich von der rauen Schönheit der Landschaft inspirieren ließen, offenbart, dass diese Insel so viel mehr ist, als „Party, Palmen, Weiber und ’nen Bier”, wie es der Schlagerstar Peter Wackel bis heute auch höchstpersönlich auf der Bühne des Bierkönigs intoniert, mehr ist, als protzige Yachten, Golfplätze, Designer-Boutiquen und Sterne-Restaurants. In den verwinkelten Gassen von Palma, unter dem Schatten der beeindruckenden Kathedrale, mischen sich die Menschen aus ihren Parallelwelten und genießen das Mehr, das diese Insel so reich und einzigartig macht.
Mallorca ist und bleibt ein Ort der Dualitäten, der widersprüchlichen Erlebnisse, die zusammengenommen das unverwechselbare Bild der Insel ergeben. Es ist diese Hassliebe, die die Insel unvergesslich macht, eine Lektion in der Kunst des Lebens, die lehrt, dass wahre Schönheit oft in der Vielfalt ihrer Gegensätze liegt.
Der Autor ist Kunst- und Architektur-Fotograf, Essayist, Autor, Publizist. Christian Sünderwald, Jahrgang 1968, wuchs in München, Luxemburg und Oberfranken auf. Er ist in Chemnitz wie in Palma zu Hause.